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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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Zur Würdigung der neuesten nationalen Bewegungen
in Deutschland.
Von
Dr. J. Cr.



Was kann Deutschland hoffen? In wiefern können die jetzigen Zu¬
stände Grundlage einer schönen Zukunft, eines auf festen Säulen ruhenden
Gebäudes deutscher Kraft, deutscher Freiheit und Würde sein? Wie können
die Keime dieser Zukunft geweckt werden zu kräftiger, üppigwuchernder
Selbstentfaltung, auf daß Deutschland sich erhebe in seiner festen und herr¬
lichen Eigenthümlichkeit zur Einheit und zum Glanze?

Gewichtige, bedeutsame Fragen, nach deren Lösung die neueste Zeit
aufgeregter, begehrlicher und auch hoffnungsreicher als je strebt. Eine in¬
nigere Wärme, ein bewußtseinvolles Streben, hat sich der Presse, der öffent¬
lichen Meinung und der einzelnen Geister bemächtigt. Jene kurzsichtigen Po¬
litiker aus dem Anfange der dreißiger Jahre, die so schnell an allem verzwei¬
felten, fangen an sich zu verlieren; ihre Tendenzen hatten sich bald erschöpft,
sie sind an ihrer Armuth und Einseitigkeit selbst bankrott geworden. Sie
wollten Resultate, ohne dafür eine Grundlage zu schaffen. Eine neue, nicht
minder radicale, wiewohl unrevolutionäre*) Richtung gibt sich kund, die ohne
im Mindesten die Gebrechen zu verkennen, welche einzelnen deutschen Zuständen

*) Gewöhnlich nennt man revolutionär diejenige Meinung, die da glaubt, daß mit
Umwälzung des Bestehenden der Anfang gemacht werden müsse, wenn von Besser-
werden die Sprache sein soll. Der Radicalismus glaubt dieß nicht, ohne darum eine
geringere Summe von Freiheit zu verlangen. So versteht die publicistische Polemik
in England und Frankreich diese Worte und in diesem Sinne nennt sich der National
revolutionär. In Deutschland nennt man revolutionär jeden activen Widerstand
gegen die Staatsgewalt; sehr mit Unrecht. Dann müßte man auch den mäßigen
Dahlmann, der in seiner "Politik" das Recht des Widerstands lehrt und der kein
Radi[ca]ler ist, einen Revolutionär nennen.
Zur Würdigung der neuesten nationalen Bewegungen
in Deutschland.
Von
Dr. J. Cr.



Was kann Deutschland hoffen? In wiefern können die jetzigen Zu¬
stände Grundlage einer schönen Zukunft, eines auf festen Säulen ruhenden
Gebäudes deutscher Kraft, deutscher Freiheit und Würde sein? Wie können
die Keime dieser Zukunft geweckt werden zu kräftiger, üppigwuchernder
Selbstentfaltung, auf daß Deutschland sich erhebe in seiner festen und herr¬
lichen Eigenthümlichkeit zur Einheit und zum Glanze?

Gewichtige, bedeutsame Fragen, nach deren Lösung die neueste Zeit
aufgeregter, begehrlicher und auch hoffnungsreicher als je strebt. Eine in¬
nigere Wärme, ein bewußtseinvolles Streben, hat sich der Presse, der öffent¬
lichen Meinung und der einzelnen Geister bemächtigt. Jene kurzsichtigen Po¬
litiker aus dem Anfange der dreißiger Jahre, die so schnell an allem verzwei¬
felten, fangen an sich zu verlieren; ihre Tendenzen hatten sich bald erschöpft,
sie sind an ihrer Armuth und Einseitigkeit selbst bankrott geworden. Sie
wollten Resultate, ohne dafür eine Grundlage zu schaffen. Eine neue, nicht
minder radicale, wiewohl unrevolutionäre*) Richtung gibt sich kund, die ohne
im Mindesten die Gebrechen zu verkennen, welche einzelnen deutschen Zuständen

*) Gewöhnlich nennt man revolutionär diejenige Meinung, die da glaubt, daß mit
Umwälzung des Bestehenden der Anfang gemacht werden müsse, wenn von Besser-
werden die Sprache sein soll. Der Radicalismus glaubt dieß nicht, ohne darum eine
geringere Summe von Freiheit zu verlangen. So versteht die publicistische Polemik
in England und Frankreich diese Worte und in diesem Sinne nennt sich der National
revolutionär. In Deutschland nennt man revolutionär jeden activen Widerstand
gegen die Staatsgewalt; sehr mit Unrecht. Dann müßte man auch den mäßigen
Dahlmann, der in seiner „Politik“ das Recht des Widerstands lehrt und der kein
Radi[ca]ler ist, einen Revolutionär nennen.
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[113/0121] Zur Würdigung der neuesten nationalen Bewegungen in Deutschland. Von Dr. J. Cr. Was kann Deutschland hoffen? In wiefern können die jetzigen Zu¬ stände Grundlage einer schönen Zukunft, eines auf festen Säulen ruhenden Gebäudes deutscher Kraft, deutscher Freiheit und Würde sein? Wie können die Keime dieser Zukunft geweckt werden zu kräftiger, üppigwuchernder Selbstentfaltung, auf daß Deutschland sich erhebe in seiner festen und herr¬ lichen Eigenthümlichkeit zur Einheit und zum Glanze? Gewichtige, bedeutsame Fragen, nach deren Lösung die neueste Zeit aufgeregter, begehrlicher und auch hoffnungsreicher als je strebt. Eine in¬ nigere Wärme, ein bewußtseinvolles Streben, hat sich der Presse, der öffent¬ lichen Meinung und der einzelnen Geister bemächtigt. Jene kurzsichtigen Po¬ litiker aus dem Anfange der dreißiger Jahre, die so schnell an allem verzwei¬ felten, fangen an sich zu verlieren; ihre Tendenzen hatten sich bald erschöpft, sie sind an ihrer Armuth und Einseitigkeit selbst bankrott geworden. Sie wollten Resultate, ohne dafür eine Grundlage zu schaffen. Eine neue, nicht minder radicale, wiewohl unrevolutionäre *) Richtung gibt sich kund, die ohne im Mindesten die Gebrechen zu verkennen, welche einzelnen deutschen Zuständen *) Gewöhnlich nennt man revolutionär diejenige Meinung, die da glaubt, daß mit Umwälzung des Bestehenden der Anfang gemacht werden müsse, wenn von Besser- werden die Sprache sein soll. Der Radicalismus glaubt dieß nicht, ohne darum eine geringere Summe von Freiheit zu verlangen. So versteht die publicistische Polemik in England und Frankreich diese Worte und in diesem Sinne nennt sich der National revolutionär. In Deutschland nennt man revolutionär jeden activen Widerstand gegen die Staatsgewalt; sehr mit Unrecht. Dann müßte man auch den mäßigen Dahlmann, der in seiner „Politik“ das Recht des Widerstands lehrt und der kein Radicaler ist, einen Revolutionär nennen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/121>, abgerufen am 20.04.2024.