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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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Gebeugten die Entfernung von dem Orte seines Unglücks möglich zu machen. Der Mann
verdient dieses Mitleid nicht. Auf eine leichtsinnigere und schlechtere Manier hat selten
ein Banquerott stattgefunden. Herr Geimüller hat nicht nur Depositengelder angegriffen,
sondern selbst Kisten mit Silber, die ihm der schwedische Gesandte anvertraut. Seit 1830
ist Herr Geimüller ohne alles Vermögen, und doch gab er während dieser Zeit Feste, die
manchmal gegen 8000 Gulden an einem Tage aufzehrten."



Gervinus.

Mancher unserer Leser wird sich vielleicht wundern, wenn er erfährt, daß Gervinus,
der Verfasser der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, erst 34 Jahre zählt. Er
ist ein großer, hagerer Mann, von etwas finsterem Aussehen, den aber alle, die
ihn näher kennen, als einen vortrefflichen Menschen schildern. Seitdem er mit seinen
sechs Collegen die Göttinger Universität verließ, lebt er in Heidelberg auf einem reizen¬
den Landhause, seinem Eigenthum, an der Seite seiner Frau, die als eine Dame von
seltener Schönheit gerühmt wird.



Gutzkow.

Bei Gelegenheit der Beurtheilung eines Buches von Moritz Carierre, welche wir
unlängst im Telegraphen lasen, fiel es uns auf, daß trotz des vielen Hin- und Herschrei¬
bens über Gutzkow, ein bedeutender Charakterzug seiner literarischen Individualität noch
nicht beleuchtet wurde. Bei aller anscheinenden Rücksichtslosigkeit und wilder Leiden¬
schaftlichkeit, mit welcher dieser Schriftsteller über den Gegenstand, den er angreift oder
vertheidigt, sich stürzt, liegt in der Höhlung seiner Feder ein gewisser diplomatischer
Geist, der ihm im Nothfalle immer eine Brücke zum Rückzüge offen läßt. Dieses tritt
namentlich da hervor, wo er lobt. Im Grunde steht das Talent eines Kritikers auf
einer bei weitem größern Probe da, wo er lobt, als da, wo er tadelt. Opposition ma¬
chen kann jeder, der einen nur mittelmäßigen Fonds von Witz oder Bosheit hat, loben
aber, motivirt loben, kann nur der feine Geist, der die Sache in ihrer genetischen
Entwickelung durchdringt. Der oberflächliche Beurtheiler, wenn er heiß ist, läßt sich ge¬
wöhnlich von seinem Enthusiasmus über Stock und Stein dahinreißen, ohne Grenze und
Maaß; ist er phlegmatisch, stumpf, so wirft er einige ausgetretene Phrasen hin, die auf
das Hundertste, wie auf das Tausendste passen. Wenn Gutzkow lobt, packt er immer
ein psychologisches Motiv. Er dringt mit einem merkwürdigen Blicke in das Indivi¬
duum. Aber weit entfernt, von dem gewonnenen Gedanken sich hinreißen zu lassen,
dreht er ihn von allen Seiten, und scheint sich selbst zu fragen: Gehe ich nicht zu weit?
Gutzkow hat schwere Erfahrungen gemacht, und er läßt bei der Produktion niemals den
Producenten aus dem Auge. Er ist mißtrauisch, sowohl gegen den Charakter, als auch
gegen das Talent seiner Collegen. Werde ich dieses Lob nicht einmal zurücknehmen
müssen? Werde ich nicht einmal gezwungen sein gegen den zu schreiben, für den ich
jetzt schreibe? Solche Fragen scheinen unsichtbar zwischen den Zeilen sich hinzuschlängeln,
und geben der Kritik ein gewisses Maaß, welches sie zu einem Kunstwerk erhebt. Es
gehört eine große Selbstbeherrschung dazu, um die Klugheitsregel in Ausführung zu
bringen, die da lautet: Sei mit deinen besten Freunden stets so, als könnten sie mor¬

Gebeugten die Entfernung von dem Orte seines Unglücks möglich zu machen. Der Mann
verdient dieses Mitleid nicht. Auf eine leichtsinnigere und schlechtere Manier hat selten
ein Banquerott stattgefunden. Herr Geimüller hat nicht nur Depositengelder angegriffen,
sondern selbst Kisten mit Silber, die ihm der schwedische Gesandte anvertraut. Seit 1830
ist Herr Geimüller ohne alles Vermögen, und doch gab er während dieser Zeit Feste, die
manchmal gegen 8000 Gulden an einem Tage aufzehrten.“



Gervinus.

Mancher unserer Leser wird sich vielleicht wundern, wenn er erfährt, daß Gervinus,
der Verfasser der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, erst 34 Jahre zählt. Er
ist ein großer, hagerer Mann, von etwas finsterem Aussehen, den aber alle, die
ihn näher kennen, als einen vortrefflichen Menschen schildern. Seitdem er mit seinen
sechs Collegen die Göttinger Universität verließ, lebt er in Heidelberg auf einem reizen¬
den Landhause, seinem Eigenthum, an der Seite seiner Frau, die als eine Dame von
seltener Schönheit gerühmt wird.



Gutzkow.

Bei Gelegenheit der Beurtheilung eines Buches von Moritz Carierre, welche wir
unlängst im Telegraphen lasen, fiel es uns auf, daß trotz des vielen Hin- und Herschrei¬
bens über Gutzkow, ein bedeutender Charakterzug seiner literarischen Individualität noch
nicht beleuchtet wurde. Bei aller anscheinenden Rücksichtslosigkeit und wilder Leiden¬
schaftlichkeit, mit welcher dieser Schriftsteller über den Gegenstand, den er angreift oder
vertheidigt, sich stürzt, liegt in der Höhlung seiner Feder ein gewisser diplomatischer
Geist, der ihm im Nothfalle immer eine Brücke zum Rückzüge offen läßt. Dieses tritt
namentlich da hervor, wo er lobt. Im Grunde steht das Talent eines Kritikers auf
einer bei weitem größern Probe da, wo er lobt, als da, wo er tadelt. Opposition ma¬
chen kann jeder, der einen nur mittelmäßigen Fonds von Witz oder Bosheit hat, loben
aber, motivirt loben, kann nur der feine Geist, der die Sache in ihrer genetischen
Entwickelung durchdringt. Der oberflächliche Beurtheiler, wenn er heiß ist, läßt sich ge¬
wöhnlich von seinem Enthusiasmus über Stock und Stein dahinreißen, ohne Grenze und
Maaß; ist er phlegmatisch, stumpf, so wirft er einige ausgetretene Phrasen hin, die auf
das Hundertste, wie auf das Tausendste passen. Wenn Gutzkow lobt, packt er immer
ein psychologisches Motiv. Er dringt mit einem merkwürdigen Blicke in das Indivi¬
duum. Aber weit entfernt, von dem gewonnenen Gedanken sich hinreißen zu lassen,
dreht er ihn von allen Seiten, und scheint sich selbst zu fragen: Gehe ich nicht zu weit?
Gutzkow hat schwere Erfahrungen gemacht, und er läßt bei der Produktion niemals den
Producenten aus dem Auge. Er ist mißtrauisch, sowohl gegen den Charakter, als auch
gegen das Talent seiner Collegen. Werde ich dieses Lob nicht einmal zurücknehmen
müssen? Werde ich nicht einmal gezwungen sein gegen den zu schreiben, für den ich
jetzt schreibe? Solche Fragen scheinen unsichtbar zwischen den Zeilen sich hinzuschlängeln,
und geben der Kritik ein gewisses Maaß, welches sie zu einem Kunstwerk erhebt. Es
gehört eine große Selbstbeherrschung dazu, um die Klugheitsregel in Ausführung zu
bringen, die da lautet: Sei mit deinen besten Freunden stets so, als könnten sie mor¬

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[34/0042] Gebeugten die Entfernung von dem Orte seines Unglücks möglich zu machen. Der Mann verdient dieses Mitleid nicht. Auf eine leichtsinnigere und schlechtere Manier hat selten ein Banquerott stattgefunden. Herr Geimüller hat nicht nur Depositengelder angegriffen, sondern selbst Kisten mit Silber, die ihm der schwedische Gesandte anvertraut. Seit 1830 ist Herr Geimüller ohne alles Vermögen, und doch gab er während dieser Zeit Feste, die manchmal gegen 8000 Gulden an einem Tage aufzehrten.“ Gervinus. Mancher unserer Leser wird sich vielleicht wundern, wenn er erfährt, daß Gervinus, der Verfasser der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, erst 34 Jahre zählt. Er ist ein großer, hagerer Mann, von etwas finsterem Aussehen, den aber alle, die ihn näher kennen, als einen vortrefflichen Menschen schildern. Seitdem er mit seinen sechs Collegen die Göttinger Universität verließ, lebt er in Heidelberg auf einem reizen¬ den Landhause, seinem Eigenthum, an der Seite seiner Frau, die als eine Dame von seltener Schönheit gerühmt wird. Gutzkow. Bei Gelegenheit der Beurtheilung eines Buches von Moritz Carierre, welche wir unlängst im Telegraphen lasen, fiel es uns auf, daß trotz des vielen Hin- und Herschrei¬ bens über Gutzkow, ein bedeutender Charakterzug seiner literarischen Individualität noch nicht beleuchtet wurde. Bei aller anscheinenden Rücksichtslosigkeit und wilder Leiden¬ schaftlichkeit, mit welcher dieser Schriftsteller über den Gegenstand, den er angreift oder vertheidigt, sich stürzt, liegt in der Höhlung seiner Feder ein gewisser diplomatischer Geist, der ihm im Nothfalle immer eine Brücke zum Rückzüge offen läßt. Dieses tritt namentlich da hervor, wo er lobt. Im Grunde steht das Talent eines Kritikers auf einer bei weitem größern Probe da, wo er lobt, als da, wo er tadelt. Opposition ma¬ chen kann jeder, der einen nur mittelmäßigen Fonds von Witz oder Bosheit hat, loben aber, motivirt loben, kann nur der feine Geist, der die Sache in ihrer genetischen Entwickelung durchdringt. Der oberflächliche Beurtheiler, wenn er heiß ist, läßt sich ge¬ wöhnlich von seinem Enthusiasmus über Stock und Stein dahinreißen, ohne Grenze und Maaß; ist er phlegmatisch, stumpf, so wirft er einige ausgetretene Phrasen hin, die auf das Hundertste, wie auf das Tausendste passen. Wenn Gutzkow lobt, packt er immer ein psychologisches Motiv. Er dringt mit einem merkwürdigen Blicke in das Indivi¬ duum. Aber weit entfernt, von dem gewonnenen Gedanken sich hinreißen zu lassen, dreht er ihn von allen Seiten, und scheint sich selbst zu fragen: Gehe ich nicht zu weit? Gutzkow hat schwere Erfahrungen gemacht, und er läßt bei der Produktion niemals den Producenten aus dem Auge. Er ist mißtrauisch, sowohl gegen den Charakter, als auch gegen das Talent seiner Collegen. Werde ich dieses Lob nicht einmal zurücknehmen müssen? Werde ich nicht einmal gezwungen sein gegen den zu schreiben, für den ich jetzt schreibe? Solche Fragen scheinen unsichtbar zwischen den Zeilen sich hinzuschlängeln, und geben der Kritik ein gewisses Maaß, welches sie zu einem Kunstwerk erhebt. Es gehört eine große Selbstbeherrschung dazu, um die Klugheitsregel in Ausführung zu bringen, die da lautet: Sei mit deinen besten Freunden stets so, als könnten sie mor¬

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/42>, abgerufen am 24.04.2024.