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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Reiche Thränen - Armes Volk.
Eine literarisch-sociale Epistel.



ist eine schöne Sache um die Empfindsamkeit. Nur ist
eS zu bedauern, daß man in dieser lieben Welt oft unnützerweise
einen sehr starken Verbrauch davon macht. Ich wünschte, diese plötz¬
lichen Rührungen, von denen wir bei jeder Gelegenheit ergriffen
werden, hätten einen Zweck, dann wäre nicht unser Heiz eben so rasch
trocken, als unsere Augen. Möchte man begreisen, daß die Thränen
das Samenkorn der biblischen Parabel sind, und daß es also unsin¬
nig ist, sie auf dürren Fels zu säen, wo sie keine Keime treiben können,
man würde sich alsdann mäßiger hierin bezeugen und unsere Theil¬
nahme an fremdem Unglück wäre dann nicht blos eine krankhafte
Schwäche unserer Thränendrüsen.

Ich weiß wahrhaftig nicht, warum man ein so heftiges Geschrei
über die Herzensdürre und den mitleidsloser Egoismus unserer Zeit
anstimme. Ich denke im Gegentheil, daß es ihr an Empfindsamkeit
durchaus nicht fehlt und fordere Jedermann heraus, mir in der
Geschichte einen Zeitraum aufzufinden, in dem mehr Thränen ver¬
gossen worden sind, als in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren.
In einer periodischen Schrift habe ich letzthin eine Berechnung ge¬
funden, welche den armen, von Herbst- und Frühlingsregen und
vom Winterschnee durchnäßten Fußgängern unwiderleglich bewies,


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Reiche Thränen - Armes Volk.
Eine literarisch-sociale Epistel.



ist eine schöne Sache um die Empfindsamkeit. Nur ist
eS zu bedauern, daß man in dieser lieben Welt oft unnützerweise
einen sehr starken Verbrauch davon macht. Ich wünschte, diese plötz¬
lichen Rührungen, von denen wir bei jeder Gelegenheit ergriffen
werden, hätten einen Zweck, dann wäre nicht unser Heiz eben so rasch
trocken, als unsere Augen. Möchte man begreisen, daß die Thränen
das Samenkorn der biblischen Parabel sind, und daß es also unsin¬
nig ist, sie auf dürren Fels zu säen, wo sie keine Keime treiben können,
man würde sich alsdann mäßiger hierin bezeugen und unsere Theil¬
nahme an fremdem Unglück wäre dann nicht blos eine krankhafte
Schwäche unserer Thränendrüsen.

Ich weiß wahrhaftig nicht, warum man ein so heftiges Geschrei
über die Herzensdürre und den mitleidsloser Egoismus unserer Zeit
anstimme. Ich denke im Gegentheil, daß es ihr an Empfindsamkeit
durchaus nicht fehlt und fordere Jedermann heraus, mir in der
Geschichte einen Zeitraum aufzufinden, in dem mehr Thränen ver¬
gossen worden sind, als in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren.
In einer periodischen Schrift habe ich letzthin eine Berechnung ge¬
funden, welche den armen, von Herbst- und Frühlingsregen und
vom Winterschnee durchnäßten Fußgängern unwiderleglich bewies,


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[0257] Reiche Thränen - Armes Volk. Eine literarisch-sociale Epistel. ist eine schöne Sache um die Empfindsamkeit. Nur ist eS zu bedauern, daß man in dieser lieben Welt oft unnützerweise einen sehr starken Verbrauch davon macht. Ich wünschte, diese plötz¬ lichen Rührungen, von denen wir bei jeder Gelegenheit ergriffen werden, hätten einen Zweck, dann wäre nicht unser Heiz eben so rasch trocken, als unsere Augen. Möchte man begreisen, daß die Thränen das Samenkorn der biblischen Parabel sind, und daß es also unsin¬ nig ist, sie auf dürren Fels zu säen, wo sie keine Keime treiben können, man würde sich alsdann mäßiger hierin bezeugen und unsere Theil¬ nahme an fremdem Unglück wäre dann nicht blos eine krankhafte Schwäche unserer Thränendrüsen. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum man ein so heftiges Geschrei über die Herzensdürre und den mitleidsloser Egoismus unserer Zeit anstimme. Ich denke im Gegentheil, daß es ihr an Empfindsamkeit durchaus nicht fehlt und fordere Jedermann heraus, mir in der Geschichte einen Zeitraum aufzufinden, in dem mehr Thränen ver¬ gossen worden sind, als in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren. In einer periodischen Schrift habe ich letzthin eine Berechnung ge¬ funden, welche den armen, von Herbst- und Frühlingsregen und vom Winterschnee durchnäßten Fußgängern unwiderleglich bewies, 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/257>, abgerufen am 03.05.2024.