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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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Wir haben Minlich jenen Theil unserer Leser im Auge, die in Bel¬
gien und Holland leben, die seit zwanzig bis dreißig Jahre keine deutsche
Bühne gesehen, denen daher das ganze deutsche Theaterweftn mit Haut und
Haar eine ganz unbekannte Weltgegend, ein Samojedensiaat ein Cbine-
senlcben ist. Nun aber bildet gerade dieses Theatcrtreibcn einen so drei.
ten Bestandtheil der deutschen Journalistik, daß man selbst bei den besten
deutschen Zeitschriften auf vier vernünftige Seiten eine Spalte Theater-
gMtsch als Zugabe erhält. Nun denke man sich den komischen Grimm
dieser außerdeutschen Deutschen, wem sie unsere Zeitschrift zu Handen be¬
kommen oder auch Bücher, worin es von Anspielungen auf diese oder
jene Thcaterpersonen wimmelt. In Amsterdam und in London, in Ant¬
werpen und in Paris, in Petersburg und in Stockholm leben unzählige
Deutsche, welche dem Gange ihrer vaterländischen Literatur mit religiö¬
sem Eifer folgen, und welche mit rührender Mühe die neuesten Werke
und Journale ihres Vaterlandes in der weiten Ferne sich zu verschaffen
trachten, und nun langen diese an und sprechen Seitenlang von Zustän¬
den und Personen die sie nicht kennen, und sür die sie eben so viel In¬
teresse haben als sür die Eunuchen des Schachs von Persien.

Diesem Theil unserer Leser glauben wir keinen schlimmen Dienst
zu erweisen, wenn wir ihnen die bedeutendsten Theaterfiguren, um welche
sich das journalistische Interesse dreht, durch eine kurze Charakteristik vor¬
führen, und da nachhelfen, wo die Selbstanschauung nicht möglich ist.


2.

Gchörigerweise sollten wir mit Wien oder Berlin beginnen. Denn
nicht zu läugnen ist es, dort, wo die Hauptacte der deutschen Politik in
die Scene gesetzt werden dort sehlt es auch an Schauspielern und
Schminketrägern nicht -- versteht sich auf der Bühnel Berlin und Wien
zählt das zahlreichste und glänzendste Tbeaterpcrsonal unter allen 36 deut¬
schen Bundesstaaten. Und- doch kömmt es uns schwer an, die Wiener
und Berliner Hoftheater als die ersten in Deutschland zu bezeichnen.
Vergessen wir nicht einen Hauptumstand der deutschen Sittengeschichte.
Die bedeutendsten Bewegungen in Poesie und Kunst gingen von den'
Städten zweiten, dritten, vierten Ranges aus. Nichts von Malerei und
Düsseldorf und München, bleiben wir beim Theater. Lessing und die
Berühmtheiten der Neubergischen Truppe gingen von Leipzig aus, Schil¬
ler und Jfflnnd von Manheim; vom alten Herrn in Weimar wollen


Wir haben Minlich jenen Theil unserer Leser im Auge, die in Bel¬
gien und Holland leben, die seit zwanzig bis dreißig Jahre keine deutsche
Bühne gesehen, denen daher das ganze deutsche Theaterweftn mit Haut und
Haar eine ganz unbekannte Weltgegend, ein Samojedensiaat ein Cbine-
senlcben ist. Nun aber bildet gerade dieses Theatcrtreibcn einen so drei.
ten Bestandtheil der deutschen Journalistik, daß man selbst bei den besten
deutschen Zeitschriften auf vier vernünftige Seiten eine Spalte Theater-
gMtsch als Zugabe erhält. Nun denke man sich den komischen Grimm
dieser außerdeutschen Deutschen, wem sie unsere Zeitschrift zu Handen be¬
kommen oder auch Bücher, worin es von Anspielungen auf diese oder
jene Thcaterpersonen wimmelt. In Amsterdam und in London, in Ant¬
werpen und in Paris, in Petersburg und in Stockholm leben unzählige
Deutsche, welche dem Gange ihrer vaterländischen Literatur mit religiö¬
sem Eifer folgen, und welche mit rührender Mühe die neuesten Werke
und Journale ihres Vaterlandes in der weiten Ferne sich zu verschaffen
trachten, und nun langen diese an und sprechen Seitenlang von Zustän¬
den und Personen die sie nicht kennen, und sür die sie eben so viel In¬
teresse haben als sür die Eunuchen des Schachs von Persien.

Diesem Theil unserer Leser glauben wir keinen schlimmen Dienst
zu erweisen, wenn wir ihnen die bedeutendsten Theaterfiguren, um welche
sich das journalistische Interesse dreht, durch eine kurze Charakteristik vor¬
führen, und da nachhelfen, wo die Selbstanschauung nicht möglich ist.


2.

Gchörigerweise sollten wir mit Wien oder Berlin beginnen. Denn
nicht zu läugnen ist es, dort, wo die Hauptacte der deutschen Politik in
die Scene gesetzt werden dort sehlt es auch an Schauspielern und
Schminketrägern nicht — versteht sich auf der Bühnel Berlin und Wien
zählt das zahlreichste und glänzendste Tbeaterpcrsonal unter allen 36 deut¬
schen Bundesstaaten. Und- doch kömmt es uns schwer an, die Wiener
und Berliner Hoftheater als die ersten in Deutschland zu bezeichnen.
Vergessen wir nicht einen Hauptumstand der deutschen Sittengeschichte.
Die bedeutendsten Bewegungen in Poesie und Kunst gingen von den'
Städten zweiten, dritten, vierten Ranges aus. Nichts von Malerei und
Düsseldorf und München, bleiben wir beim Theater. Lessing und die
Berühmtheiten der Neubergischen Truppe gingen von Leipzig aus, Schil¬
ler und Jfflnnd von Manheim; vom alten Herrn in Weimar wollen


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[0146] Wir haben Minlich jenen Theil unserer Leser im Auge, die in Bel¬ gien und Holland leben, die seit zwanzig bis dreißig Jahre keine deutsche Bühne gesehen, denen daher das ganze deutsche Theaterweftn mit Haut und Haar eine ganz unbekannte Weltgegend, ein Samojedensiaat ein Cbine- senlcben ist. Nun aber bildet gerade dieses Theatcrtreibcn einen so drei. ten Bestandtheil der deutschen Journalistik, daß man selbst bei den besten deutschen Zeitschriften auf vier vernünftige Seiten eine Spalte Theater- gMtsch als Zugabe erhält. Nun denke man sich den komischen Grimm dieser außerdeutschen Deutschen, wem sie unsere Zeitschrift zu Handen be¬ kommen oder auch Bücher, worin es von Anspielungen auf diese oder jene Thcaterpersonen wimmelt. In Amsterdam und in London, in Ant¬ werpen und in Paris, in Petersburg und in Stockholm leben unzählige Deutsche, welche dem Gange ihrer vaterländischen Literatur mit religiö¬ sem Eifer folgen, und welche mit rührender Mühe die neuesten Werke und Journale ihres Vaterlandes in der weiten Ferne sich zu verschaffen trachten, und nun langen diese an und sprechen Seitenlang von Zustän¬ den und Personen die sie nicht kennen, und sür die sie eben so viel In¬ teresse haben als sür die Eunuchen des Schachs von Persien. Diesem Theil unserer Leser glauben wir keinen schlimmen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen die bedeutendsten Theaterfiguren, um welche sich das journalistische Interesse dreht, durch eine kurze Charakteristik vor¬ führen, und da nachhelfen, wo die Selbstanschauung nicht möglich ist. 2. Gchörigerweise sollten wir mit Wien oder Berlin beginnen. Denn nicht zu läugnen ist es, dort, wo die Hauptacte der deutschen Politik in die Scene gesetzt werden dort sehlt es auch an Schauspielern und Schminketrägern nicht — versteht sich auf der Bühnel Berlin und Wien zählt das zahlreichste und glänzendste Tbeaterpcrsonal unter allen 36 deut¬ schen Bundesstaaten. Und- doch kömmt es uns schwer an, die Wiener und Berliner Hoftheater als die ersten in Deutschland zu bezeichnen. Vergessen wir nicht einen Hauptumstand der deutschen Sittengeschichte. Die bedeutendsten Bewegungen in Poesie und Kunst gingen von den' Städten zweiten, dritten, vierten Ranges aus. Nichts von Malerei und Düsseldorf und München, bleiben wir beim Theater. Lessing und die Berühmtheiten der Neubergischen Truppe gingen von Leipzig aus, Schil¬ ler und Jfflnnd von Manheim; vom alten Herrn in Weimar wollen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/146>, abgerufen am 04.05.2024.