Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

Bild:
<< vorherige Seite
Populäre Ki t e r s t U n sL s z z e u.



Die deutschen Lyriker.
. ^ ^

^ Die Poesie gleicht einer großen Kirche" Tausende strömen ihr
zu, um Gemüth und Herz zu dem Uebersinnlichen zu erheben; aber
in jedem dieser tausend Herzen, in jedem dieser tausend Gemüther lebt
ein anderer Wunsch, ein anderes Bedürfniß. Wie selten begegnen
sich zwei Menschen, die von der Gottheit ganz gleiche, in allen Thei¬
len übereinstimmende Begriffe haben. Jeder stellt sich den Schöpfer
nach seiner eigenen speziellen Weise vor, je nachdem seine Phantasie
glänzend oder farblos, sein' Herz freudig oder düster, sein Verstand
durchdringend oder oberflächlich ist. Die Schrift- lehrt uns: Gott
habe die Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen; die Philosophie
lehrt uns:. Der Mensch erschaffe sich seinen Gott stets nach dem
Ebenbilde seiner selbst..
'

.Und gerade so ist es mit der Poesie. Was ist Poesie? Fast
Alle fühlen es, aber fast Jeder wird Euch anders antworten. Sel¬
ten giebt es zwei Personen, die ein und dasselbe bei ihr suchen. Der
Eine verlangt von ihr Zerstreuung, der Andere Erbauung, der Dritte
ein Spiel frivolen Witzes, der Vierte einen Quell sentimentaler Thrä¬
nen und ein Fünfter will bescheidener Weise Alles dieß zusammen!--
Treten wir in eine Kirche, und mustern wir das Herz der Knieen¬
den. Der -Eine betet um Brod, der Andere um Vergrößerung sei¬
ner Reichthümer, der Dritte um Liebe, der Vierte um Rache. Hier
fleht eine bleiche Mutter um das Leben ihres kranken Kindes, dort
erwünscht sich ein wüster Sohn den Tod seines, reichen Vaters. Der


81
Populäre Ki t e r s t U n sL s z z e u.



Die deutschen Lyriker.
. ^ ^

^ Die Poesie gleicht einer großen Kirche» Tausende strömen ihr
zu, um Gemüth und Herz zu dem Uebersinnlichen zu erheben; aber
in jedem dieser tausend Herzen, in jedem dieser tausend Gemüther lebt
ein anderer Wunsch, ein anderes Bedürfniß. Wie selten begegnen
sich zwei Menschen, die von der Gottheit ganz gleiche, in allen Thei¬
len übereinstimmende Begriffe haben. Jeder stellt sich den Schöpfer
nach seiner eigenen speziellen Weise vor, je nachdem seine Phantasie
glänzend oder farblos, sein' Herz freudig oder düster, sein Verstand
durchdringend oder oberflächlich ist. Die Schrift- lehrt uns: Gott
habe die Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen; die Philosophie
lehrt uns:. Der Mensch erschaffe sich seinen Gott stets nach dem
Ebenbilde seiner selbst..
'

.Und gerade so ist es mit der Poesie. Was ist Poesie? Fast
Alle fühlen es, aber fast Jeder wird Euch anders antworten. Sel¬
ten giebt es zwei Personen, die ein und dasselbe bei ihr suchen. Der
Eine verlangt von ihr Zerstreuung, der Andere Erbauung, der Dritte
ein Spiel frivolen Witzes, der Vierte einen Quell sentimentaler Thrä¬
nen und ein Fünfter will bescheidener Weise Alles dieß zusammen!—
Treten wir in eine Kirche, und mustern wir das Herz der Knieen¬
den. Der -Eine betet um Brod, der Andere um Vergrößerung sei¬
ner Reichthümer, der Dritte um Liebe, der Vierte um Rache. Hier
fleht eine bleiche Mutter um das Leben ihres kranken Kindes, dort
erwünscht sich ein wüster Sohn den Tod seines, reichen Vaters. Der


81
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0611" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267824"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Populäre Ki t e r s t U n sL s z z e u.</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="2">
            <head> Die deutschen Lyriker.</head><lb/>
            <div n="3">
              <head> . ^ ^</head><lb/>
              <p xml:id="ID_2127"> ^ Die Poesie gleicht einer großen Kirche» Tausende strömen ihr<lb/>
zu, um Gemüth und Herz zu dem Uebersinnlichen zu erheben; aber<lb/>
in jedem dieser tausend Herzen, in jedem dieser tausend Gemüther lebt<lb/>
ein anderer Wunsch, ein anderes Bedürfniß. Wie selten begegnen<lb/>
sich zwei Menschen, die von der Gottheit ganz gleiche, in allen Thei¬<lb/>
len übereinstimmende Begriffe haben. Jeder stellt sich den Schöpfer<lb/>
nach seiner eigenen speziellen Weise vor, je nachdem seine Phantasie<lb/>
glänzend oder farblos, sein' Herz freudig oder düster, sein Verstand<lb/>
durchdringend oder oberflächlich ist. Die Schrift- lehrt uns: Gott<lb/>
habe die Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen; die Philosophie<lb/>
lehrt uns:. Der Mensch erschaffe sich seinen Gott stets nach dem<lb/>
Ebenbilde seiner selbst..<lb/>
'</p><lb/>
              <p xml:id="ID_2128" next="#ID_2129"> .Und gerade so ist es mit der Poesie. Was ist Poesie? Fast<lb/>
Alle fühlen es, aber fast Jeder wird Euch anders antworten. Sel¬<lb/>
ten giebt es zwei Personen, die ein und dasselbe bei ihr suchen. Der<lb/>
Eine verlangt von ihr Zerstreuung, der Andere Erbauung, der Dritte<lb/>
ein Spiel frivolen Witzes, der Vierte einen Quell sentimentaler Thrä¬<lb/>
nen und ein Fünfter will bescheidener Weise Alles dieß zusammen!&#x2014;<lb/>
Treten wir in eine Kirche, und mustern wir das Herz der Knieen¬<lb/>
den. Der -Eine betet um Brod, der Andere um Vergrößerung sei¬<lb/>
ner Reichthümer, der Dritte um Liebe, der Vierte um Rache. Hier<lb/>
fleht eine bleiche Mutter um das Leben ihres kranken Kindes, dort<lb/>
erwünscht sich ein wüster Sohn den Tod seines, reichen Vaters. Der</p><lb/>
              <fw type="sig" place="bottom"> 81</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0611] Populäre Ki t e r s t U n sL s z z e u. Die deutschen Lyriker. . ^ ^ ^ Die Poesie gleicht einer großen Kirche» Tausende strömen ihr zu, um Gemüth und Herz zu dem Uebersinnlichen zu erheben; aber in jedem dieser tausend Herzen, in jedem dieser tausend Gemüther lebt ein anderer Wunsch, ein anderes Bedürfniß. Wie selten begegnen sich zwei Menschen, die von der Gottheit ganz gleiche, in allen Thei¬ len übereinstimmende Begriffe haben. Jeder stellt sich den Schöpfer nach seiner eigenen speziellen Weise vor, je nachdem seine Phantasie glänzend oder farblos, sein' Herz freudig oder düster, sein Verstand durchdringend oder oberflächlich ist. Die Schrift- lehrt uns: Gott habe die Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen; die Philosophie lehrt uns:. Der Mensch erschaffe sich seinen Gott stets nach dem Ebenbilde seiner selbst.. ' .Und gerade so ist es mit der Poesie. Was ist Poesie? Fast Alle fühlen es, aber fast Jeder wird Euch anders antworten. Sel¬ ten giebt es zwei Personen, die ein und dasselbe bei ihr suchen. Der Eine verlangt von ihr Zerstreuung, der Andere Erbauung, der Dritte ein Spiel frivolen Witzes, der Vierte einen Quell sentimentaler Thrä¬ nen und ein Fünfter will bescheidener Weise Alles dieß zusammen!— Treten wir in eine Kirche, und mustern wir das Herz der Knieen¬ den. Der -Eine betet um Brod, der Andere um Vergrößerung sei¬ ner Reichthümer, der Dritte um Liebe, der Vierte um Rache. Hier fleht eine bleiche Mutter um das Leben ihres kranken Kindes, dort erwünscht sich ein wüster Sohn den Tod seines, reichen Vaters. Der 81

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/611
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/611>, abgerufen am 04.05.2024.