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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Die Zukunft der deutschen Lyrik



Dos Wcltgcheimniß ist nirgendwo, c6 ist nicht hier
und nicht dorten;
Es schaukelt sich, ein unschuldiges Kind, in des
Sängers blühend Wt
enoren.
Immermann.

Wir denken oft an eine Vergangenheit, in der wir noch nicht
lebten, mit demselben Gefühl zurück, das uns bei der Erinnerung an
eine glückliche Kindheit beschleicht. Sehnsucht und Wehmuth machen
sich dabei unser Herz streitig; Sehnsucht nach einer Zeit, die wir
ohne die Bedrängnisse und Bedürfnisse der unseren wähnen, Weh¬
muth, daß wir uns nicht aus den Kämpfen und Drangsalen der
Gegenwart in die stille Beschränkung jener Tage zurückretten können.
Wenn wir uns mit einem Zustande unbefriedigt fühlen, spiegelt uns
die Phantasie von allen uns fernen Verhältnissen nur die Schönheit,
nicht die Schrecken ab, wie wir von einer Landschaft aus der Ferne
nur das reizende Thal und die bewaldete Höhe, nicht die Schluchten
und Abgründe erblicken.

Suchen wir eines jener Bücher hervor, die vielleicht eine schon
begrabene Frauenhand zum letzten Male durchblätterte und die den
Titel: Gedichte von Kleist, Hölty, Gleim, Stolberg ze. führen. Zwar
werden wir anfangs ein wenig erschrecken vor dem sich drohend auf¬
richtenden Zopf, doch wenn wir uns mit ihm vertraut machen, finden
wir in jenen Poesien immer einen Bach, zu dessen Rauschen es sich


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Die Zukunft der deutschen Lyrik



Dos Wcltgcheimniß ist nirgendwo, c6 ist nicht hier
und nicht dorten;
Es schaukelt sich, ein unschuldiges Kind, in des
Sängers blühend Wt
enoren.
Immermann.

Wir denken oft an eine Vergangenheit, in der wir noch nicht
lebten, mit demselben Gefühl zurück, das uns bei der Erinnerung an
eine glückliche Kindheit beschleicht. Sehnsucht und Wehmuth machen
sich dabei unser Herz streitig; Sehnsucht nach einer Zeit, die wir
ohne die Bedrängnisse und Bedürfnisse der unseren wähnen, Weh¬
muth, daß wir uns nicht aus den Kämpfen und Drangsalen der
Gegenwart in die stille Beschränkung jener Tage zurückretten können.
Wenn wir uns mit einem Zustande unbefriedigt fühlen, spiegelt uns
die Phantasie von allen uns fernen Verhältnissen nur die Schönheit,
nicht die Schrecken ab, wie wir von einer Landschaft aus der Ferne
nur das reizende Thal und die bewaldete Höhe, nicht die Schluchten
und Abgründe erblicken.

Suchen wir eines jener Bücher hervor, die vielleicht eine schon
begrabene Frauenhand zum letzten Male durchblätterte und die den
Titel: Gedichte von Kleist, Hölty, Gleim, Stolberg ze. führen. Zwar
werden wir anfangs ein wenig erschrecken vor dem sich drohend auf¬
richtenden Zopf, doch wenn wir uns mit ihm vertraut machen, finden
wir in jenen Poesien immer einen Bach, zu dessen Rauschen es sich


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[0581] Die Zukunft der deutschen Lyrik Dos Wcltgcheimniß ist nirgendwo, c6 ist nicht hier und nicht dorten; Es schaukelt sich, ein unschuldiges Kind, in des Sängers blühend Wt enoren. Immermann. Wir denken oft an eine Vergangenheit, in der wir noch nicht lebten, mit demselben Gefühl zurück, das uns bei der Erinnerung an eine glückliche Kindheit beschleicht. Sehnsucht und Wehmuth machen sich dabei unser Herz streitig; Sehnsucht nach einer Zeit, die wir ohne die Bedrängnisse und Bedürfnisse der unseren wähnen, Weh¬ muth, daß wir uns nicht aus den Kämpfen und Drangsalen der Gegenwart in die stille Beschränkung jener Tage zurückretten können. Wenn wir uns mit einem Zustande unbefriedigt fühlen, spiegelt uns die Phantasie von allen uns fernen Verhältnissen nur die Schönheit, nicht die Schrecken ab, wie wir von einer Landschaft aus der Ferne nur das reizende Thal und die bewaldete Höhe, nicht die Schluchten und Abgründe erblicken. Suchen wir eines jener Bücher hervor, die vielleicht eine schon begrabene Frauenhand zum letzten Male durchblätterte und die den Titel: Gedichte von Kleist, Hölty, Gleim, Stolberg ze. führen. Zwar werden wir anfangs ein wenig erschrecken vor dem sich drohend auf¬ richtenden Zopf, doch wenn wir uns mit ihm vertraut machen, finden wir in jenen Poesien immer einen Bach, zu dessen Rauschen es sich Wecnzbotcn l«^- l. 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/581>, abgerufen am 06.05.2024.