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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Neueste Dramatiker und Dramaturgen.



"Wie zur Zeit der Minnesänger in Deutschland in dem Worte
"der Liebe und in dem Geheimniß des Waldes das ganze Dasein
"sich erschöpfen wollte, so heut in dem Worte der Freiheit, in wei-
"chem die Zeit das schönste und tiefste Geheimniß der Geschichte zu
"ergreifen strebt." Dies die Unterschrift, die Mundt seinem Porträt
gegeben. Das Streben nach Freiheit ist zwar das Princip aller
geschichtlichen Bewegung; aber so allseitig, tief und bestimmt ist es
wohl nie den Menschen zum Bewußtsein gekommen, wie gerade in
der jüngsten Epoche, ungefähr vom Beginn des nordamerikanischen
Freiheitskrieges bis zur Gegenwart, und Nichts dürfte interessanter
sein, als wenn man nachwiese, wie von jenem Anfangspunkte bis
jetzt allmälig immer reicher, klarer und energischer dieses Bewußtsein
sich bethätigt. Das Freiheitsstreben läßt sich als ein dreifaches fas¬
sen: als ein religiöses, ein politisches und ein sociales. Der Drang
nach religiöser Freiheit ist der früheste, schon in der Reformation
brach er gewaltig hervor; tausend Erscheinungen unserer Tage aber
beweisen, wie wenig derselbe noch zum Abschluß gekommen ist. Ja
überall offenbart sich eine reaktionäre Richtung, die uns mit Besorg-
niß erfüllen dürste, wüßten wir nicht, daß jeder Anlauf ein Paar
Schritte rückwärts erfordert. Das zweite Moment aber, das politi¬
sche, ist es, was unserer Zeit im Besonderen ihr charakteristisches
Gepräge gibt, und der letzte Ausdruck, den wir dafür gewonnen, lau¬
tet: Gesetzliche Theilnahme Aller am Staate. Die Richtung auf das
Sociale ist die jüngste und am wenigsten entwickelte, sie bereitet aber
Bahnen für die Zukunft. Aber auch jene Theilnahme am staatlichen
Leben ist mindestens bei uns noch immer mehr eine theoretische, als
eine praktische; sie ist das Leiden, der Schmerz der heutigen Welt,
der, unter mannichfaltigen Formen erscheinend, nicht immer von den


Grenzboten 18i4. II. z
Neueste Dramatiker und Dramaturgen.



„Wie zur Zeit der Minnesänger in Deutschland in dem Worte
„der Liebe und in dem Geheimniß des Waldes das ganze Dasein
„sich erschöpfen wollte, so heut in dem Worte der Freiheit, in wei-
„chem die Zeit das schönste und tiefste Geheimniß der Geschichte zu
„ergreifen strebt." Dies die Unterschrift, die Mundt seinem Porträt
gegeben. Das Streben nach Freiheit ist zwar das Princip aller
geschichtlichen Bewegung; aber so allseitig, tief und bestimmt ist es
wohl nie den Menschen zum Bewußtsein gekommen, wie gerade in
der jüngsten Epoche, ungefähr vom Beginn des nordamerikanischen
Freiheitskrieges bis zur Gegenwart, und Nichts dürfte interessanter
sein, als wenn man nachwiese, wie von jenem Anfangspunkte bis
jetzt allmälig immer reicher, klarer und energischer dieses Bewußtsein
sich bethätigt. Das Freiheitsstreben läßt sich als ein dreifaches fas¬
sen: als ein religiöses, ein politisches und ein sociales. Der Drang
nach religiöser Freiheit ist der früheste, schon in der Reformation
brach er gewaltig hervor; tausend Erscheinungen unserer Tage aber
beweisen, wie wenig derselbe noch zum Abschluß gekommen ist. Ja
überall offenbart sich eine reaktionäre Richtung, die uns mit Besorg-
niß erfüllen dürste, wüßten wir nicht, daß jeder Anlauf ein Paar
Schritte rückwärts erfordert. Das zweite Moment aber, das politi¬
sche, ist es, was unserer Zeit im Besonderen ihr charakteristisches
Gepräge gibt, und der letzte Ausdruck, den wir dafür gewonnen, lau¬
tet: Gesetzliche Theilnahme Aller am Staate. Die Richtung auf das
Sociale ist die jüngste und am wenigsten entwickelte, sie bereitet aber
Bahnen für die Zukunft. Aber auch jene Theilnahme am staatlichen
Leben ist mindestens bei uns noch immer mehr eine theoretische, als
eine praktische; sie ist das Leiden, der Schmerz der heutigen Welt,
der, unter mannichfaltigen Formen erscheinend, nicht immer von den


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[0005] Neueste Dramatiker und Dramaturgen. „Wie zur Zeit der Minnesänger in Deutschland in dem Worte „der Liebe und in dem Geheimniß des Waldes das ganze Dasein „sich erschöpfen wollte, so heut in dem Worte der Freiheit, in wei- „chem die Zeit das schönste und tiefste Geheimniß der Geschichte zu „ergreifen strebt." Dies die Unterschrift, die Mundt seinem Porträt gegeben. Das Streben nach Freiheit ist zwar das Princip aller geschichtlichen Bewegung; aber so allseitig, tief und bestimmt ist es wohl nie den Menschen zum Bewußtsein gekommen, wie gerade in der jüngsten Epoche, ungefähr vom Beginn des nordamerikanischen Freiheitskrieges bis zur Gegenwart, und Nichts dürfte interessanter sein, als wenn man nachwiese, wie von jenem Anfangspunkte bis jetzt allmälig immer reicher, klarer und energischer dieses Bewußtsein sich bethätigt. Das Freiheitsstreben läßt sich als ein dreifaches fas¬ sen: als ein religiöses, ein politisches und ein sociales. Der Drang nach religiöser Freiheit ist der früheste, schon in der Reformation brach er gewaltig hervor; tausend Erscheinungen unserer Tage aber beweisen, wie wenig derselbe noch zum Abschluß gekommen ist. Ja überall offenbart sich eine reaktionäre Richtung, die uns mit Besorg- niß erfüllen dürste, wüßten wir nicht, daß jeder Anlauf ein Paar Schritte rückwärts erfordert. Das zweite Moment aber, das politi¬ sche, ist es, was unserer Zeit im Besonderen ihr charakteristisches Gepräge gibt, und der letzte Ausdruck, den wir dafür gewonnen, lau¬ tet: Gesetzliche Theilnahme Aller am Staate. Die Richtung auf das Sociale ist die jüngste und am wenigsten entwickelte, sie bereitet aber Bahnen für die Zukunft. Aber auch jene Theilnahme am staatlichen Leben ist mindestens bei uns noch immer mehr eine theoretische, als eine praktische; sie ist das Leiden, der Schmerz der heutigen Welt, der, unter mannichfaltigen Formen erscheinend, nicht immer von den Grenzboten 18i4. II. z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/5>, abgerufen am 02.05.2024.