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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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halben. Wenn Deutschland einst eine freie Presse und öffentliche Ge¬
richte haben wird, da wird es erst die Flecken, die sich in den Falten
der Gesellschaft verstecken, kennen lernen; es wird aufhören, die Hände
über den Kopf zusammen zu schlagen über das Pariser Laster; seine
Hände werden im Vaterlands Beschäftigung genug finden.


II.
A"S Berlin.

Wunder und Zeichen. -- Magnetiscure, Pietisten u. s. w> -- Reuberth, Lutze
und Pantallon. -- Dieffenbach. -- Mordfabeln. -- Die Constitutionssage.
Die Ausweisung der deutschen Schriftsteller aus Paris. -- Theaterdingc. --
Hofrath Rousseau. --

Es herrscht in Berlin eine Stimmung, wie sie mit keiner frühe¬
ren zu vergleichen ist. So miraculose schloß neulich ein Berliner Cor-
respondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Und in der That,
miraculose ist diese allerneuste Berliner Stimmung. Es geschehen
Wunder in dieser "gedankengestählten Stadt," in der die Kritik auf
ihrem papiernen Throne sitzt und es werden Wunder geglaubt. Die
Romantik ging dieser Tage im Tieck'schen "Blaubart" über die Bühne.
Die pietistischen Strömungen der Gesellschaft fangen allmälig an sich
auf der Oberfläche zu zeigen in den verschiedenartigsten Symptomen.
Magnetische und homöopathische Wunderkuren sind jetzt an der Tages¬
ordnung und die medicinische Facultät mit ihren berühmten Männern
sieht verwundert auf diese Bewegungen, welche ihrer heilwissenschaftlichm
Erfahrungen öffentlich spotten. Die Busselstraße ist das Mekka der
Wundcrkurglaubigcn geworden und in jedem Viertel möchte sich ein
kleiner Wunderdoktor ansetzen, um entweder mit der Zauberkraft der
Hand oder mit homöopathischen Pillen das Volk zu beglücken. Die
Negierung sieht noch ganz ruhig in dieses Treiben, wie in die con-
fessionellen Bewegungen und hat bis jetzt den Homöopathen eben so
wenig das Selbstdispensiren, wie den Schneidemühler Priestern die
Amtshandlungen verboten. Als magnetischer Heilkünstler will der
Dresdner Neuverth hier seine Rolle spielen und in der Homöopathie
floriren die Herren Lutze und Pantallon. Der eine war früher Post-
secretcür und hielt später, bevor er seine neue, die Welt beglückende
Bahn einschlug, in den kleinen Städtchen der Mark literarische Vor¬
lesungen, der andere aber hat den Tausendkünstler Bosco auf seinen
Kreuz- und Querzügen durch Europa begleitet und bei dieser Gelegen¬
heit gelernt, glücklich mit der Hand zu operiren. Nun fehlt hier
noch der tolle Ernst Mahner mit seiner Ur-Hvgienie, um den medici-
nischen Wunderwahnsinn voll zu machen und den gelangweilten Sphä¬
ren unserer Residenz ein rassimrtcs Interesse zu bieten. Denn man
glaube nur nicht, daß es unser dummer, ungebildeter Pöbel ist, wei-


halben. Wenn Deutschland einst eine freie Presse und öffentliche Ge¬
richte haben wird, da wird es erst die Flecken, die sich in den Falten
der Gesellschaft verstecken, kennen lernen; es wird aufhören, die Hände
über den Kopf zusammen zu schlagen über das Pariser Laster; seine
Hände werden im Vaterlands Beschäftigung genug finden.


II.
A»S Berlin.

Wunder und Zeichen. — Magnetiscure, Pietisten u. s. w> — Reuberth, Lutze
und Pantallon. — Dieffenbach. — Mordfabeln. — Die Constitutionssage.
Die Ausweisung der deutschen Schriftsteller aus Paris. — Theaterdingc. —
Hofrath Rousseau. —

Es herrscht in Berlin eine Stimmung, wie sie mit keiner frühe¬
ren zu vergleichen ist. So miraculose schloß neulich ein Berliner Cor-
respondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Und in der That,
miraculose ist diese allerneuste Berliner Stimmung. Es geschehen
Wunder in dieser „gedankengestählten Stadt," in der die Kritik auf
ihrem papiernen Throne sitzt und es werden Wunder geglaubt. Die
Romantik ging dieser Tage im Tieck'schen „Blaubart" über die Bühne.
Die pietistischen Strömungen der Gesellschaft fangen allmälig an sich
auf der Oberfläche zu zeigen in den verschiedenartigsten Symptomen.
Magnetische und homöopathische Wunderkuren sind jetzt an der Tages¬
ordnung und die medicinische Facultät mit ihren berühmten Männern
sieht verwundert auf diese Bewegungen, welche ihrer heilwissenschaftlichm
Erfahrungen öffentlich spotten. Die Busselstraße ist das Mekka der
Wundcrkurglaubigcn geworden und in jedem Viertel möchte sich ein
kleiner Wunderdoktor ansetzen, um entweder mit der Zauberkraft der
Hand oder mit homöopathischen Pillen das Volk zu beglücken. Die
Negierung sieht noch ganz ruhig in dieses Treiben, wie in die con-
fessionellen Bewegungen und hat bis jetzt den Homöopathen eben so
wenig das Selbstdispensiren, wie den Schneidemühler Priestern die
Amtshandlungen verboten. Als magnetischer Heilkünstler will der
Dresdner Neuverth hier seine Rolle spielen und in der Homöopathie
floriren die Herren Lutze und Pantallon. Der eine war früher Post-
secretcür und hielt später, bevor er seine neue, die Welt beglückende
Bahn einschlug, in den kleinen Städtchen der Mark literarische Vor¬
lesungen, der andere aber hat den Tausendkünstler Bosco auf seinen
Kreuz- und Querzügen durch Europa begleitet und bei dieser Gelegen¬
heit gelernt, glücklich mit der Hand zu operiren. Nun fehlt hier
noch der tolle Ernst Mahner mit seiner Ur-Hvgienie, um den medici-
nischen Wunderwahnsinn voll zu machen und den gelangweilten Sphä¬
ren unserer Residenz ein rassimrtcs Interesse zu bieten. Denn man
glaube nur nicht, daß es unser dummer, ungebildeter Pöbel ist, wei-


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[0436] halben. Wenn Deutschland einst eine freie Presse und öffentliche Ge¬ richte haben wird, da wird es erst die Flecken, die sich in den Falten der Gesellschaft verstecken, kennen lernen; es wird aufhören, die Hände über den Kopf zusammen zu schlagen über das Pariser Laster; seine Hände werden im Vaterlands Beschäftigung genug finden. II. A»S Berlin. Wunder und Zeichen. — Magnetiscure, Pietisten u. s. w> — Reuberth, Lutze und Pantallon. — Dieffenbach. — Mordfabeln. — Die Constitutionssage. Die Ausweisung der deutschen Schriftsteller aus Paris. — Theaterdingc. — Hofrath Rousseau. — Es herrscht in Berlin eine Stimmung, wie sie mit keiner frühe¬ ren zu vergleichen ist. So miraculose schloß neulich ein Berliner Cor- respondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Und in der That, miraculose ist diese allerneuste Berliner Stimmung. Es geschehen Wunder in dieser „gedankengestählten Stadt," in der die Kritik auf ihrem papiernen Throne sitzt und es werden Wunder geglaubt. Die Romantik ging dieser Tage im Tieck'schen „Blaubart" über die Bühne. Die pietistischen Strömungen der Gesellschaft fangen allmälig an sich auf der Oberfläche zu zeigen in den verschiedenartigsten Symptomen. Magnetische und homöopathische Wunderkuren sind jetzt an der Tages¬ ordnung und die medicinische Facultät mit ihren berühmten Männern sieht verwundert auf diese Bewegungen, welche ihrer heilwissenschaftlichm Erfahrungen öffentlich spotten. Die Busselstraße ist das Mekka der Wundcrkurglaubigcn geworden und in jedem Viertel möchte sich ein kleiner Wunderdoktor ansetzen, um entweder mit der Zauberkraft der Hand oder mit homöopathischen Pillen das Volk zu beglücken. Die Negierung sieht noch ganz ruhig in dieses Treiben, wie in die con- fessionellen Bewegungen und hat bis jetzt den Homöopathen eben so wenig das Selbstdispensiren, wie den Schneidemühler Priestern die Amtshandlungen verboten. Als magnetischer Heilkünstler will der Dresdner Neuverth hier seine Rolle spielen und in der Homöopathie floriren die Herren Lutze und Pantallon. Der eine war früher Post- secretcür und hielt später, bevor er seine neue, die Welt beglückende Bahn einschlug, in den kleinen Städtchen der Mark literarische Vor¬ lesungen, der andere aber hat den Tausendkünstler Bosco auf seinen Kreuz- und Querzügen durch Europa begleitet und bei dieser Gelegen¬ heit gelernt, glücklich mit der Hand zu operiren. Nun fehlt hier noch der tolle Ernst Mahner mit seiner Ur-Hvgienie, um den medici- nischen Wunderwahnsinn voll zu machen und den gelangweilten Sphä¬ ren unserer Residenz ein rassimrtcs Interesse zu bieten. Denn man glaube nur nicht, daß es unser dummer, ungebildeter Pöbel ist, wei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/436>, abgerufen am 06.05.2024.