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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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Sechster Tag.

Heute Abend ist die Aufführung Nococos. Ich hege die aller¬
geringste Erwartung, besonders seit ich gestern Gutzkow'S "Urbild"
hier gesehen. Wir spielen es in Leipzig sogar rascher, schärfer, grei¬
fender, und was ich im Publicum zu finden erwartet, das hab' ich
vermißt: Naschheit und Feinheit der Auffassung, Sinn für das Ge¬
bäude im Ganzen. Man erlustigte sich an den Einzelnheiten und
war auch darin nicht wählerisch. Die Aufführung aber gilt hier für
eine gute.




Ich habe heute Jenny Lind noch in einem Concerte schwedische
Lieder singen hören, und ich bin ihr von einem Schweden vorgestellt
worden. Ich sollte ihr von der schwedischen Heimath erzählen, die
ich später noch als sie selbst gesehen. Das wollt' ich ihr mit schwe¬
dischen Ausdrücken würzen, und der erste und einzige, welcher mir
einfiel, bedeutete "saure Milch"! Man kann nicht glücklicher sein im
Impromptu, und Fräulein Jenny lachte herzerschütternd. Sie ist
ganz so natürlich und einfach, wie ich mir sie gedacht, eine anspruchs¬
lose Blume in der Haide.

Welcher Widerspruch! Welche Bestätigung! Ich hatte immer
gewünscht, mein Stück nur ja früher in Berlin als in Leipzig heraus¬
zubringen, weil ich meinte, in einer solchen Hauptstadt für ein Jn-
triguenspiel alter SeigneurS ein aufmerksameres und theilnehmende-
reö Publcium zu finden als in einer Handelsstadt, für welche diese
Pompadourzeit etwas zu weit Abliegendes, etwas Uninteressantes sein
werde. Auch herrschte in Leipzig ein ungünstiges Vorurtheil gegen
dies Stück, und es war mir eine systematische Opposition angekün¬
digt. In Berlin aber herrschte ein günstiges Vorurtheil. Und was
geschieht? In Leipzig finde ich die strengste Aufmerksamkeit, und
auch die Opposition will erst mit Fug und Grund sich äußern, auch
sie hört genau, und das Stück erringt einen vollständigen Sieg. In
Berlin finde ich ein überfülltes und zugleich ein unruhiges Haus,
welches die ErPosition zum großen Theile nicht hört oder überhört.
Dieser Mangel an Aufmerksamkeit, unbekannt, total unbekannt im


Sechster Tag.

Heute Abend ist die Aufführung Nococos. Ich hege die aller¬
geringste Erwartung, besonders seit ich gestern Gutzkow'S „Urbild"
hier gesehen. Wir spielen es in Leipzig sogar rascher, schärfer, grei¬
fender, und was ich im Publicum zu finden erwartet, das hab' ich
vermißt: Naschheit und Feinheit der Auffassung, Sinn für das Ge¬
bäude im Ganzen. Man erlustigte sich an den Einzelnheiten und
war auch darin nicht wählerisch. Die Aufführung aber gilt hier für
eine gute.




Ich habe heute Jenny Lind noch in einem Concerte schwedische
Lieder singen hören, und ich bin ihr von einem Schweden vorgestellt
worden. Ich sollte ihr von der schwedischen Heimath erzählen, die
ich später noch als sie selbst gesehen. Das wollt' ich ihr mit schwe¬
dischen Ausdrücken würzen, und der erste und einzige, welcher mir
einfiel, bedeutete „saure Milch"! Man kann nicht glücklicher sein im
Impromptu, und Fräulein Jenny lachte herzerschütternd. Sie ist
ganz so natürlich und einfach, wie ich mir sie gedacht, eine anspruchs¬
lose Blume in der Haide.

Welcher Widerspruch! Welche Bestätigung! Ich hatte immer
gewünscht, mein Stück nur ja früher in Berlin als in Leipzig heraus¬
zubringen, weil ich meinte, in einer solchen Hauptstadt für ein Jn-
triguenspiel alter SeigneurS ein aufmerksameres und theilnehmende-
reö Publcium zu finden als in einer Handelsstadt, für welche diese
Pompadourzeit etwas zu weit Abliegendes, etwas Uninteressantes sein
werde. Auch herrschte in Leipzig ein ungünstiges Vorurtheil gegen
dies Stück, und es war mir eine systematische Opposition angekün¬
digt. In Berlin aber herrschte ein günstiges Vorurtheil. Und was
geschieht? In Leipzig finde ich die strengste Aufmerksamkeit, und
auch die Opposition will erst mit Fug und Grund sich äußern, auch
sie hört genau, und das Stück erringt einen vollständigen Sieg. In
Berlin finde ich ein überfülltes und zugleich ein unruhiges Haus,
welches die ErPosition zum großen Theile nicht hört oder überhört.
Dieser Mangel an Aufmerksamkeit, unbekannt, total unbekannt im


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[0124] Sechster Tag. Heute Abend ist die Aufführung Nococos. Ich hege die aller¬ geringste Erwartung, besonders seit ich gestern Gutzkow'S „Urbild" hier gesehen. Wir spielen es in Leipzig sogar rascher, schärfer, grei¬ fender, und was ich im Publicum zu finden erwartet, das hab' ich vermißt: Naschheit und Feinheit der Auffassung, Sinn für das Ge¬ bäude im Ganzen. Man erlustigte sich an den Einzelnheiten und war auch darin nicht wählerisch. Die Aufführung aber gilt hier für eine gute. Ich habe heute Jenny Lind noch in einem Concerte schwedische Lieder singen hören, und ich bin ihr von einem Schweden vorgestellt worden. Ich sollte ihr von der schwedischen Heimath erzählen, die ich später noch als sie selbst gesehen. Das wollt' ich ihr mit schwe¬ dischen Ausdrücken würzen, und der erste und einzige, welcher mir einfiel, bedeutete „saure Milch"! Man kann nicht glücklicher sein im Impromptu, und Fräulein Jenny lachte herzerschütternd. Sie ist ganz so natürlich und einfach, wie ich mir sie gedacht, eine anspruchs¬ lose Blume in der Haide. Welcher Widerspruch! Welche Bestätigung! Ich hatte immer gewünscht, mein Stück nur ja früher in Berlin als in Leipzig heraus¬ zubringen, weil ich meinte, in einer solchen Hauptstadt für ein Jn- triguenspiel alter SeigneurS ein aufmerksameres und theilnehmende- reö Publcium zu finden als in einer Handelsstadt, für welche diese Pompadourzeit etwas zu weit Abliegendes, etwas Uninteressantes sein werde. Auch herrschte in Leipzig ein ungünstiges Vorurtheil gegen dies Stück, und es war mir eine systematische Opposition angekün¬ digt. In Berlin aber herrschte ein günstiges Vorurtheil. Und was geschieht? In Leipzig finde ich die strengste Aufmerksamkeit, und auch die Opposition will erst mit Fug und Grund sich äußern, auch sie hört genau, und das Stück erringt einen vollständigen Sieg. In Berlin finde ich ein überfülltes und zugleich ein unruhiges Haus, welches die ErPosition zum großen Theile nicht hört oder überhört. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit, unbekannt, total unbekannt im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/124>, abgerufen am 27.04.2024.