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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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i.
Der OstermeHkatalog. 18"S.

Weidmann's und Hinrichs's Katalog streiten sich, wer vollstän¬
diger die ganze ungeheure Masse deutscher Literatur bringe. Weid¬
mann's Katalog erscheint rascher und mehr zu rechter Zeit, da eben
das Interesse sich dem Buchmarkt am lebhaftesten zuwendet. Auch
bringt er gerade genug Buchtitel, um uns die Furcht davor zu beneh¬
men, daß sich die Schreibseligkeit Deutschlands etwa bedenklich min¬
dere, ich meine insofern bedenklich, daß die Diplomatie fürchten könnte,
die Deutschen begonnen zu handeln und hätten keine Zeit mehr zum
Schreiben. Etwas kleiner ist diesmal jedoch das Bücherverzeichnis),
als vor'in Jahre; aber eine flüchtige Ausammenrechnung gibt doch
immer noch eine Menge von etwa 5750 Büchern und Zeitschriften,
welche binnen einem Semester durch 796 Buchhändler verlegt wurden.
Besonders reich ist die Bcochürenliteratur. Pauperismus und Prole¬
tariat, heilige Röcke und Neukatholiken, Wasserheilanstalten und Pre߬
angelegenheiten sind die Hauptgegenstande ihrer Demonstrationen. Noch
vor Kurzem zählte ein Journal 192 Schriften in einem einzigen Mo¬
nate, welche das Für und Wider des Neukatholicismus besprachen,
und der Buchstabe ^ des Meßkatalogs nennt 46, der Buchstabe K
gar 163 theologische Schriften. In der Theologie aber, wie in allen
andern Fachwissenschaften, ist's auch ein bemerkbar hervortretender Cha¬
rakter, daß die eigentliche Theorie fast gänzlich verbannt ist; die Pra¬
xis und die Beantwortung einzelner practischer Fragen allein beschäf¬
tigen die Männer der Wissenschaft; die Empirie breitet sich weiter und
weiter, immer allcingeltcnder aus. Besonders gilt dies von der Me¬
dicin. Es ist wahrhaft wundersam, wie in dieser mehr und mehr die
allgemeinen Lehr- und Handbücher verschwinden, wie die Bücher des
Details ihnen den Rang ablaufen an Zahl und an Wichtigkeit. Ge¬
schieht jedoch in den Wissenschaften -- nicht nur in Medicin und Theo¬
logie -- etwas Allgemeines, so erscheint es tabellarisch geordnet, nicht
wie für tiefes Studium, sondern meistens nur wie für den flüchtigen
Ueberblick bestimmt und zum Nachschlagen bequem eingerichtet. Dies


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i.
Der OstermeHkatalog. 18»S.

Weidmann's und Hinrichs's Katalog streiten sich, wer vollstän¬
diger die ganze ungeheure Masse deutscher Literatur bringe. Weid¬
mann's Katalog erscheint rascher und mehr zu rechter Zeit, da eben
das Interesse sich dem Buchmarkt am lebhaftesten zuwendet. Auch
bringt er gerade genug Buchtitel, um uns die Furcht davor zu beneh¬
men, daß sich die Schreibseligkeit Deutschlands etwa bedenklich min¬
dere, ich meine insofern bedenklich, daß die Diplomatie fürchten könnte,
die Deutschen begonnen zu handeln und hätten keine Zeit mehr zum
Schreiben. Etwas kleiner ist diesmal jedoch das Bücherverzeichnis),
als vor'in Jahre; aber eine flüchtige Ausammenrechnung gibt doch
immer noch eine Menge von etwa 5750 Büchern und Zeitschriften,
welche binnen einem Semester durch 796 Buchhändler verlegt wurden.
Besonders reich ist die Bcochürenliteratur. Pauperismus und Prole¬
tariat, heilige Röcke und Neukatholiken, Wasserheilanstalten und Pre߬
angelegenheiten sind die Hauptgegenstande ihrer Demonstrationen. Noch
vor Kurzem zählte ein Journal 192 Schriften in einem einzigen Mo¬
nate, welche das Für und Wider des Neukatholicismus besprachen,
und der Buchstabe ^ des Meßkatalogs nennt 46, der Buchstabe K
gar 163 theologische Schriften. In der Theologie aber, wie in allen
andern Fachwissenschaften, ist's auch ein bemerkbar hervortretender Cha¬
rakter, daß die eigentliche Theorie fast gänzlich verbannt ist; die Pra¬
xis und die Beantwortung einzelner practischer Fragen allein beschäf¬
tigen die Männer der Wissenschaft; die Empirie breitet sich weiter und
weiter, immer allcingeltcnder aus. Besonders gilt dies von der Me¬
dicin. Es ist wahrhaft wundersam, wie in dieser mehr und mehr die
allgemeinen Lehr- und Handbücher verschwinden, wie die Bücher des
Details ihnen den Rang ablaufen an Zahl und an Wichtigkeit. Ge¬
schieht jedoch in den Wissenschaften — nicht nur in Medicin und Theo¬
logie — etwas Allgemeines, so erscheint es tabellarisch geordnet, nicht
wie für tiefes Studium, sondern meistens nur wie für den flüchtigen
Ueberblick bestimmt und zum Nachschlagen bequem eingerichtet. Dies


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[0231] T a g e b u es. i. Der OstermeHkatalog. 18»S. Weidmann's und Hinrichs's Katalog streiten sich, wer vollstän¬ diger die ganze ungeheure Masse deutscher Literatur bringe. Weid¬ mann's Katalog erscheint rascher und mehr zu rechter Zeit, da eben das Interesse sich dem Buchmarkt am lebhaftesten zuwendet. Auch bringt er gerade genug Buchtitel, um uns die Furcht davor zu beneh¬ men, daß sich die Schreibseligkeit Deutschlands etwa bedenklich min¬ dere, ich meine insofern bedenklich, daß die Diplomatie fürchten könnte, die Deutschen begonnen zu handeln und hätten keine Zeit mehr zum Schreiben. Etwas kleiner ist diesmal jedoch das Bücherverzeichnis), als vor'in Jahre; aber eine flüchtige Ausammenrechnung gibt doch immer noch eine Menge von etwa 5750 Büchern und Zeitschriften, welche binnen einem Semester durch 796 Buchhändler verlegt wurden. Besonders reich ist die Bcochürenliteratur. Pauperismus und Prole¬ tariat, heilige Röcke und Neukatholiken, Wasserheilanstalten und Pre߬ angelegenheiten sind die Hauptgegenstande ihrer Demonstrationen. Noch vor Kurzem zählte ein Journal 192 Schriften in einem einzigen Mo¬ nate, welche das Für und Wider des Neukatholicismus besprachen, und der Buchstabe ^ des Meßkatalogs nennt 46, der Buchstabe K gar 163 theologische Schriften. In der Theologie aber, wie in allen andern Fachwissenschaften, ist's auch ein bemerkbar hervortretender Cha¬ rakter, daß die eigentliche Theorie fast gänzlich verbannt ist; die Pra¬ xis und die Beantwortung einzelner practischer Fragen allein beschäf¬ tigen die Männer der Wissenschaft; die Empirie breitet sich weiter und weiter, immer allcingeltcnder aus. Besonders gilt dies von der Me¬ dicin. Es ist wahrhaft wundersam, wie in dieser mehr und mehr die allgemeinen Lehr- und Handbücher verschwinden, wie die Bücher des Details ihnen den Rang ablaufen an Zahl und an Wichtigkeit. Ge¬ schieht jedoch in den Wissenschaften — nicht nur in Medicin und Theo¬ logie — etwas Allgemeines, so erscheint es tabellarisch geordnet, nicht wie für tiefes Studium, sondern meistens nur wie für den flüchtigen Ueberblick bestimmt und zum Nachschlagen bequem eingerichtet. Dies

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/231>, abgerufen am 27.04.2024.