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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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Zum Verständniß der Schweiz.
Von einem Schweizer.



Es ist ein freilich leichter zu erkennender als zu verbessernder
Fehler, den das große Publicum bei der Besprechung ausländischer
Begebenheiten der Gegenwart begeht, daß es einen allzu subjectiven
Standpunkt einnimmt, von welchem herab es fremde Verhältnisse an¬
sieht und beurtheilt. Man lebt sich unwillkürlich so fest in seine
eigenen Ideen, in die Ansichten und Zustände der uns unmittelbar
umgebenden Welt hinein, daß man, ohne es zu ahnen, einseitig wird.
In Dingen, welche verschiedenen Parteimeinungen unterworfen sind,
gibt sich nur zu oft die Thatsache kund, daß man sich um so mehr
entzweit, je entschiedener ein Jeder das Wahre auf seinem vorgefaßt
richtigen Wege zu erringen strebt, daß (um sofort auf das politische
Gebiet hmüberzuspklen) die Bürger verschiedener Nationen um so
ungerechter gegen einander werden, je patriotischer sie sich in ihrer
heimathlichen Sphäre geberden. So einseitig sind nun freilich We¬
nige, daß sie mit klaren Worten den altjüdischen Philisterhaß predig¬
ten und nicht wenigstens zugestünden, daß außer der Sphäre, in
welcher sie sich bewegen, das Wahre und das Schöne auch seine
Stelle und Verwirklichung finde; allein nur zu häufig bleibt dieses
Zugeständnis- ein blos formelles, ein kalter Tribut, den das rohe
Gemüth einer scheinbaren Bildung entrichtet. Wenn ich nicht klar zu
unterscheiden vermag, worin das Gute und das Tadelnswerthe des
Andern besteht, so ist meine Bewunderung so gut wie meine Verach¬
tung eitel, und ich mache mich eher selber lächerlich, als den Andern
verehrungs- oder verachtungswürdig. So einfach wahr und so all¬
gemein in tlivsi anerkannt diese Sätze auch sind, so häufige Verstöße
gegen dieselben führt uns die Praris unaufhörlich vor, und ganz


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Zum Verständniß der Schweiz.
Von einem Schweizer.



Es ist ein freilich leichter zu erkennender als zu verbessernder
Fehler, den das große Publicum bei der Besprechung ausländischer
Begebenheiten der Gegenwart begeht, daß es einen allzu subjectiven
Standpunkt einnimmt, von welchem herab es fremde Verhältnisse an¬
sieht und beurtheilt. Man lebt sich unwillkürlich so fest in seine
eigenen Ideen, in die Ansichten und Zustände der uns unmittelbar
umgebenden Welt hinein, daß man, ohne es zu ahnen, einseitig wird.
In Dingen, welche verschiedenen Parteimeinungen unterworfen sind,
gibt sich nur zu oft die Thatsache kund, daß man sich um so mehr
entzweit, je entschiedener ein Jeder das Wahre auf seinem vorgefaßt
richtigen Wege zu erringen strebt, daß (um sofort auf das politische
Gebiet hmüberzuspklen) die Bürger verschiedener Nationen um so
ungerechter gegen einander werden, je patriotischer sie sich in ihrer
heimathlichen Sphäre geberden. So einseitig sind nun freilich We¬
nige, daß sie mit klaren Worten den altjüdischen Philisterhaß predig¬
ten und nicht wenigstens zugestünden, daß außer der Sphäre, in
welcher sie sich bewegen, das Wahre und das Schöne auch seine
Stelle und Verwirklichung finde; allein nur zu häufig bleibt dieses
Zugeständnis- ein blos formelles, ein kalter Tribut, den das rohe
Gemüth einer scheinbaren Bildung entrichtet. Wenn ich nicht klar zu
unterscheiden vermag, worin das Gute und das Tadelnswerthe des
Andern besteht, so ist meine Bewunderung so gut wie meine Verach¬
tung eitel, und ich mache mich eher selber lächerlich, als den Andern
verehrungs- oder verachtungswürdig. So einfach wahr und so all¬
gemein in tlivsi anerkannt diese Sätze auch sind, so häufige Verstöße
gegen dieselben führt uns die Praris unaufhörlich vor, und ganz


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[0429] Zum Verständniß der Schweiz. Von einem Schweizer. Es ist ein freilich leichter zu erkennender als zu verbessernder Fehler, den das große Publicum bei der Besprechung ausländischer Begebenheiten der Gegenwart begeht, daß es einen allzu subjectiven Standpunkt einnimmt, von welchem herab es fremde Verhältnisse an¬ sieht und beurtheilt. Man lebt sich unwillkürlich so fest in seine eigenen Ideen, in die Ansichten und Zustände der uns unmittelbar umgebenden Welt hinein, daß man, ohne es zu ahnen, einseitig wird. In Dingen, welche verschiedenen Parteimeinungen unterworfen sind, gibt sich nur zu oft die Thatsache kund, daß man sich um so mehr entzweit, je entschiedener ein Jeder das Wahre auf seinem vorgefaßt richtigen Wege zu erringen strebt, daß (um sofort auf das politische Gebiet hmüberzuspklen) die Bürger verschiedener Nationen um so ungerechter gegen einander werden, je patriotischer sie sich in ihrer heimathlichen Sphäre geberden. So einseitig sind nun freilich We¬ nige, daß sie mit klaren Worten den altjüdischen Philisterhaß predig¬ ten und nicht wenigstens zugestünden, daß außer der Sphäre, in welcher sie sich bewegen, das Wahre und das Schöne auch seine Stelle und Verwirklichung finde; allein nur zu häufig bleibt dieses Zugeständnis- ein blos formelles, ein kalter Tribut, den das rohe Gemüth einer scheinbaren Bildung entrichtet. Wenn ich nicht klar zu unterscheiden vermag, worin das Gute und das Tadelnswerthe des Andern besteht, so ist meine Bewunderung so gut wie meine Verach¬ tung eitel, und ich mache mich eher selber lächerlich, als den Andern verehrungs- oder verachtungswürdig. So einfach wahr und so all¬ gemein in tlivsi anerkannt diese Sätze auch sind, so häufige Verstöße gegen dieselben führt uns die Praris unaufhörlich vor, und ganz Grenzboten I»<s. II. 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/429>, abgerufen am 27.04.2024.