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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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Die Briefe, welche Charlotte von Hagen aus Wien an ihre hie¬
sigen Freunde geschrieben, haben einige Sensation gemacht. Die Ha¬
gen hat dort nicht angesprochen -- was ihr aber bei dem antipodi¬
schen Geiste zwischen unserer und der österreichischen Residenz hier sehr
nützen kann, wenn sie es geschickt anzufangen weiß. Dies scheint
auch die geistreiche und gewandte Actrice zu wissen. Sie ist voll pi-
quanter Moquerien über die Oesterreicher und erzählt unter Andern,
daß in dem Stücke "Er geht auf's Land" (wo der berühmte, von ihr
geschaffene Mucker-Knir spurlos vorüberging --- wie unerhört!) alle
persiflirende Tendenz wegfallen mußte, und der junge Herr darf natür¬
licher Weise nicht Kirchenvorsteher werden. Das jubelnde Entzücken
der bigotten Familie wird in Wien durch die Nachricht herbeigeführt,
daß er Vorsteher des Vereins gegen Thierquälerei geworden ist. --
Nun, bei den kirchlichen Verhältnissen Oesterreichs finden wir das we¬
nigstens natürlich. Unnatürlich aber erscheint eine andere Censurände-
rung, von der die Hagen erzählt, und zwar in den "Jägern" von
Jffland. Der peinliche Gcwisscnsscrupel der Oberförsterin in Bezug
auf die verschiedene Religion der Liebenden, welcher die ängstliche Frau
zur Verweigerung ihrer Einwilligung treibt, ist in Wien dahin ab¬
geändert, daß Riekchens Vater (nach der Wiener Bearbeitung) im
Auchthause starb und die Mutter noch im Arbeitshause sitzt! -- Wie
man so mit den edelsten Tendenzen eines Dichters umspringen kann,
ist unbegreiflich. Ja, hätten die Stellen, in denen Jffland Toleranz
und Versöhnung predigt, auch nur das leiseste verfängliche oder belei¬
digende Wort! Aber im Gegentheile, dieser Gewissensscrupel der
Oberförsterin und ihre endliche Einwilligung ist in einem so versöh¬
nenden, gemüthvorwaltendcn Tone gehalten, daß man in Wien diese
Stellen, wenn sie nicht geschrieben wären, herbei wünschen sollte. Statt
dessen streicht man so Vortreffliches, Menschliches, Staatsklugcs!--
Uebrigens hat die Hagen in letzterer Zeit ein Geschenk erhalten, das
sie vielleicht für ihr Wiener Mißgeschick tröstet. Aug. Wilhelm Schle¬
gel hat ihr in seinem Testamente eine kostbare Brillantnadel vermacht,
welche aus einem großen, sehr werthvollen Solitar und zwölf kleinen
Brillanten besteht. Der Erblasser nennt die Hagen eine Dame "die
,
V. ihm immer sehr werth gewesen." --


2.

Der letzte Corso. -- Die babylonische Jda. -- Der liebe Pöbel. -- Gensdar-
meriethciten. -- Krebs.

Am letzten Mai fand im Thiergarten zwischen dem Stern und
dem Hofjager, unsern des zoologischen Gartens, die letzte diesjährige
Corsofahrt statt. Das Wetter gar günstig, und daher die Promenade
zu Roß, zu Wagen und zu Fuß reich belebt. Leider waren diesmal
keine Musikchöre dabei thätig, was sehr nothwendig in Berlin ist, da


Grciizbotcii l"is. II. 69

Die Briefe, welche Charlotte von Hagen aus Wien an ihre hie¬
sigen Freunde geschrieben, haben einige Sensation gemacht. Die Ha¬
gen hat dort nicht angesprochen — was ihr aber bei dem antipodi¬
schen Geiste zwischen unserer und der österreichischen Residenz hier sehr
nützen kann, wenn sie es geschickt anzufangen weiß. Dies scheint
auch die geistreiche und gewandte Actrice zu wissen. Sie ist voll pi-
quanter Moquerien über die Oesterreicher und erzählt unter Andern,
daß in dem Stücke „Er geht auf's Land" (wo der berühmte, von ihr
geschaffene Mucker-Knir spurlos vorüberging —- wie unerhört!) alle
persiflirende Tendenz wegfallen mußte, und der junge Herr darf natür¬
licher Weise nicht Kirchenvorsteher werden. Das jubelnde Entzücken
der bigotten Familie wird in Wien durch die Nachricht herbeigeführt,
daß er Vorsteher des Vereins gegen Thierquälerei geworden ist. —
Nun, bei den kirchlichen Verhältnissen Oesterreichs finden wir das we¬
nigstens natürlich. Unnatürlich aber erscheint eine andere Censurände-
rung, von der die Hagen erzählt, und zwar in den „Jägern" von
Jffland. Der peinliche Gcwisscnsscrupel der Oberförsterin in Bezug
auf die verschiedene Religion der Liebenden, welcher die ängstliche Frau
zur Verweigerung ihrer Einwilligung treibt, ist in Wien dahin ab¬
geändert, daß Riekchens Vater (nach der Wiener Bearbeitung) im
Auchthause starb und die Mutter noch im Arbeitshause sitzt! — Wie
man so mit den edelsten Tendenzen eines Dichters umspringen kann,
ist unbegreiflich. Ja, hätten die Stellen, in denen Jffland Toleranz
und Versöhnung predigt, auch nur das leiseste verfängliche oder belei¬
digende Wort! Aber im Gegentheile, dieser Gewissensscrupel der
Oberförsterin und ihre endliche Einwilligung ist in einem so versöh¬
nenden, gemüthvorwaltendcn Tone gehalten, daß man in Wien diese
Stellen, wenn sie nicht geschrieben wären, herbei wünschen sollte. Statt
dessen streicht man so Vortreffliches, Menschliches, Staatsklugcs!--
Uebrigens hat die Hagen in letzterer Zeit ein Geschenk erhalten, das
sie vielleicht für ihr Wiener Mißgeschick tröstet. Aug. Wilhelm Schle¬
gel hat ihr in seinem Testamente eine kostbare Brillantnadel vermacht,
welche aus einem großen, sehr werthvollen Solitar und zwölf kleinen
Brillanten besteht. Der Erblasser nennt die Hagen eine Dame „die
,
V. ihm immer sehr werth gewesen." —


2.

Der letzte Corso. — Die babylonische Jda. — Der liebe Pöbel. — Gensdar-
meriethciten. — Krebs.

Am letzten Mai fand im Thiergarten zwischen dem Stern und
dem Hofjager, unsern des zoologischen Gartens, die letzte diesjährige
Corsofahrt statt. Das Wetter gar günstig, und daher die Promenade
zu Roß, zu Wagen und zu Fuß reich belebt. Leider waren diesmal
keine Musikchöre dabei thätig, was sehr nothwendig in Berlin ist, da


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[0541] Die Briefe, welche Charlotte von Hagen aus Wien an ihre hie¬ sigen Freunde geschrieben, haben einige Sensation gemacht. Die Ha¬ gen hat dort nicht angesprochen — was ihr aber bei dem antipodi¬ schen Geiste zwischen unserer und der österreichischen Residenz hier sehr nützen kann, wenn sie es geschickt anzufangen weiß. Dies scheint auch die geistreiche und gewandte Actrice zu wissen. Sie ist voll pi- quanter Moquerien über die Oesterreicher und erzählt unter Andern, daß in dem Stücke „Er geht auf's Land" (wo der berühmte, von ihr geschaffene Mucker-Knir spurlos vorüberging —- wie unerhört!) alle persiflirende Tendenz wegfallen mußte, und der junge Herr darf natür¬ licher Weise nicht Kirchenvorsteher werden. Das jubelnde Entzücken der bigotten Familie wird in Wien durch die Nachricht herbeigeführt, daß er Vorsteher des Vereins gegen Thierquälerei geworden ist. — Nun, bei den kirchlichen Verhältnissen Oesterreichs finden wir das we¬ nigstens natürlich. Unnatürlich aber erscheint eine andere Censurände- rung, von der die Hagen erzählt, und zwar in den „Jägern" von Jffland. Der peinliche Gcwisscnsscrupel der Oberförsterin in Bezug auf die verschiedene Religion der Liebenden, welcher die ängstliche Frau zur Verweigerung ihrer Einwilligung treibt, ist in Wien dahin ab¬ geändert, daß Riekchens Vater (nach der Wiener Bearbeitung) im Auchthause starb und die Mutter noch im Arbeitshause sitzt! — Wie man so mit den edelsten Tendenzen eines Dichters umspringen kann, ist unbegreiflich. Ja, hätten die Stellen, in denen Jffland Toleranz und Versöhnung predigt, auch nur das leiseste verfängliche oder belei¬ digende Wort! Aber im Gegentheile, dieser Gewissensscrupel der Oberförsterin und ihre endliche Einwilligung ist in einem so versöh¬ nenden, gemüthvorwaltendcn Tone gehalten, daß man in Wien diese Stellen, wenn sie nicht geschrieben wären, herbei wünschen sollte. Statt dessen streicht man so Vortreffliches, Menschliches, Staatsklugcs!-- Uebrigens hat die Hagen in letzterer Zeit ein Geschenk erhalten, das sie vielleicht für ihr Wiener Mißgeschick tröstet. Aug. Wilhelm Schle¬ gel hat ihr in seinem Testamente eine kostbare Brillantnadel vermacht, welche aus einem großen, sehr werthvollen Solitar und zwölf kleinen Brillanten besteht. Der Erblasser nennt die Hagen eine Dame „die , V. ihm immer sehr werth gewesen." — 2. Der letzte Corso. — Die babylonische Jda. — Der liebe Pöbel. — Gensdar- meriethciten. — Krebs. Am letzten Mai fand im Thiergarten zwischen dem Stern und dem Hofjager, unsern des zoologischen Gartens, die letzte diesjährige Corsofahrt statt. Das Wetter gar günstig, und daher die Promenade zu Roß, zu Wagen und zu Fuß reich belebt. Leider waren diesmal keine Musikchöre dabei thätig, was sehr nothwendig in Berlin ist, da Grciizbotcii l»is. II. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/541>, abgerufen am 27.04.2024.