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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Lebensbewegungen der höhern Gesellschaftsklassen noch anerkennend ge¬
nannt werden. Die niedern Klassen dagegen und ihr Treiben -- be¬
sonders in England -- copirte der Verfasser wohl nur nach den Zeich¬
nungen jener Schriftsteller, welche diesen ih Pdti vs
rerouconorzug¬
A. B . . . . §. weise zuwendeten.


II.
Aus Paris.

Allerheiligen. -- Die journalistische Riesenschlange. -- Caffechausscene. -- Der
kranke Heine. -- Dr. Hyrtl und Dr. Gruby. -- Deutsche Aerzte. --
Taillandier über Dingelstedt.

Man muß hier einen Tag mitmachen, an welchem keine Jour¬
nale erscheinen -- wie z. B. vorige Woche am Allerheiligentage --
um zu begreifen, welch ein Bedürfniß das Journal dem Pariser ist.
Mitten in der an Zerstreuung unerschöpflichen Stadt findet er Nichts,
was ihm die versäumte Lectüre seines Blattes, das Ausbleiben des
nöthigen Proviants an Nachrichten ersetzen könnte. Darum gibt es
hier auch keine Erscheinung, die so viel Furore unter allen Classen
der Gesellschaft macht, als eine Calamität oder ein Scandal in der
Journalistik. Die Riesenschlange von Zeitung, die sich seit mehreren
Wochen in allen Casseehäufern lagert, die "Epoque", ist noch immer
nicht zu Tode gesprochen, obgleich viele ihrer Concurrenten ihr ein
seliges Ende gönnen möchten. Wenn man auf dem Boulevard hin¬
schlentert und einen von diesen armen Teufeln erblickt, die in einer
grauen Uniform, einen dreieckigen Hut auf dem Kopfe, die Nummern
der "Epoque" mit dumpfem Tone zum Kaufe aufbieten, so sollte
man glauben, es sind dieß die Leichenbitter, welche zur Beerdigung
der ganzen pariser Presse einladen, denn nach dem Riesenfresscn,
welches die "Epoque" bietet, gibt es kein i>!"s u>l>^ mehr für die Jour¬
nalistik. Ich ging unlängst in eins jener Cafvs, wo auch Diners
servirt werden. Es war Essenszeit, fünf Uhr Abends. Ich bemerkte,
wie der Gar?on im Stillen wüthende Blicke schoß auf einen Herrn,
der neben mir saß. Dieser Herr las nämlich die "Epoque"; er
war erst auf der sechsten Columne der zweiten Seite. "Sechs Stun¬
den an einem und demselben Tische sitzen zu bleiben!" -- brummte
der Gar^on vor sich hin "den Platz abzusperren und uns zu nö¬
thigen, Kunden, die zu Mittag speisen wollen, fortzuschicken, und dieß
Alles für ein Glas Zuckerwasser, für eine Zeche von fünf Vous."
Während dieses Monologs blieb der eifrige Leser unbeweglich in fein
Journal vertieft sitzen, während wirklich einige ungeduldige Mittags¬
gaste aus Unwillen keinen Platz zu finden, fortgingen, um ein ande¬
res Speisehaus aufzusuchen. In dem Momente, da ich selbst fort¬
ging, begann der gewissenhafte Leser sich über die erste Columne der
dritten Seite herzumachen, und der Gar^on, der vor Wuth schäumte,


Lebensbewegungen der höhern Gesellschaftsklassen noch anerkennend ge¬
nannt werden. Die niedern Klassen dagegen und ihr Treiben — be¬
sonders in England — copirte der Verfasser wohl nur nach den Zeich¬
nungen jener Schriftsteller, welche diesen ih Pdti vs
rerouconorzug¬
A. B . . . . §. weise zuwendeten.


II.
Aus Paris.

Allerheiligen. — Die journalistische Riesenschlange. — Caffechausscene. — Der
kranke Heine. — Dr. Hyrtl und Dr. Gruby. — Deutsche Aerzte. —
Taillandier über Dingelstedt.

Man muß hier einen Tag mitmachen, an welchem keine Jour¬
nale erscheinen — wie z. B. vorige Woche am Allerheiligentage —
um zu begreifen, welch ein Bedürfniß das Journal dem Pariser ist.
Mitten in der an Zerstreuung unerschöpflichen Stadt findet er Nichts,
was ihm die versäumte Lectüre seines Blattes, das Ausbleiben des
nöthigen Proviants an Nachrichten ersetzen könnte. Darum gibt es
hier auch keine Erscheinung, die so viel Furore unter allen Classen
der Gesellschaft macht, als eine Calamität oder ein Scandal in der
Journalistik. Die Riesenschlange von Zeitung, die sich seit mehreren
Wochen in allen Casseehäufern lagert, die „Epoque", ist noch immer
nicht zu Tode gesprochen, obgleich viele ihrer Concurrenten ihr ein
seliges Ende gönnen möchten. Wenn man auf dem Boulevard hin¬
schlentert und einen von diesen armen Teufeln erblickt, die in einer
grauen Uniform, einen dreieckigen Hut auf dem Kopfe, die Nummern
der „Epoque" mit dumpfem Tone zum Kaufe aufbieten, so sollte
man glauben, es sind dieß die Leichenbitter, welche zur Beerdigung
der ganzen pariser Presse einladen, denn nach dem Riesenfresscn,
welches die „Epoque" bietet, gibt es kein i>!»s u>l>^ mehr für die Jour¬
nalistik. Ich ging unlängst in eins jener Cafvs, wo auch Diners
servirt werden. Es war Essenszeit, fünf Uhr Abends. Ich bemerkte,
wie der Gar?on im Stillen wüthende Blicke schoß auf einen Herrn,
der neben mir saß. Dieser Herr las nämlich die „Epoque"; er
war erst auf der sechsten Columne der zweiten Seite. „Sechs Stun¬
den an einem und demselben Tische sitzen zu bleiben!" — brummte
der Gar^on vor sich hin „den Platz abzusperren und uns zu nö¬
thigen, Kunden, die zu Mittag speisen wollen, fortzuschicken, und dieß
Alles für ein Glas Zuckerwasser, für eine Zeche von fünf Vous."
Während dieses Monologs blieb der eifrige Leser unbeweglich in fein
Journal vertieft sitzen, während wirklich einige ungeduldige Mittags¬
gaste aus Unwillen keinen Platz zu finden, fortgingen, um ein ande¬
res Speisehaus aufzusuchen. In dem Momente, da ich selbst fort¬
ging, begann der gewissenhafte Leser sich über die erste Columne der
dritten Seite herzumachen, und der Gar^on, der vor Wuth schäumte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/322>, abgerufen am 02.05.2024.