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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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irgend eine Fußbedeckung im ärgsten Sonnenbrand, und ist zufrieden,
wenn er sich täglich 30 Kreuzer W. W. oder 12 Kreuzer C.-M. ver¬
dient; dabei lebt er blos von Wasser und Brot, dem er durch Salz
und B estreichen mit Knoblauch einige Würze zu verleihen sucht, auf
welche Weise es ihm denn auch gelingt, von diesem kargen Lohn
selbst noch Ersparnisse zurückzulegen.

Bei allen Bauten wird man in Wien lediglich Slaven beschäftigt finden.
Als die Direktion der Wien-Gloggnitzcr Eisenbahn den Fortbau der Linie
nach Ungarn, der jetzt so lebhaft betrieben wird, beschlossen hatte, und
zu diesem Behuf durch öffentliche Kundmachung die Brotlosen zur
Arbeit einlud, fanden sich in Folge des niedern Tagclohns nur sehr
Wenige in Wien selbst, und auch diese erklärten, zu diesem Lohne
nicht arbeiten zu können. Darauf erhielt die Bahndirection die Erlaub¬
niß, sich die erforderliche Arbeiterzahl aus Böhmen kommen zu lassen,
und kaum hatten die Kreisämter daselbst durch das Organ der
herrschaftlichen Gutsgerichte die Aufforderung erlassen, als sich statt der
benöthigten 4WV bereits auch schon 6W0 Arbeiter auf den Weg nach
Wien machten, wo sie allerdings mit scheelen Blicken und gelegentli¬
chen Faustschlägen begrüßt wurden; doch der böhmische Landmann ist
an Püffe so gewöhnt, daß ihn ein solcher Empfang nicht einzuschüch¬
tern vermag. Wahrhaft frappant ist die nomadenhafte Art, mit wel¬
cher sich diese Einwanderer alsbald auf freiem Feld ansässig machten,
und es gewährt einen sonderbaren Anblick, diese Leute Abends nach
vollbrachtem Tagewerk auf improvisirten Herden ihre Mahlzeit be¬
reiten zu sehen, und das Schauspiel erreicht den Gipfel der Origi¬
nalität, sobald sie ihre selbstgegrabenen Schlafstellen einnehmen.


II
A u s B e r l i n.

Die Berliner Zeitung interessant. -- Wie sich die Zeiten ändern. -- Grund der
religiösen Reaction. -- Wirrwar der Parteien. -- Das aristokratische Element
der Bewegung.

Das Gewirr ist unglaublich groß. Die Zeitung ist jetzt in der
That interessant, hört man in allen Kreisen, hört man von Man¬
nern und Weibern. Nämlich die Vossische. Nämlich wegen der
"Eingesandt", in denen die geistliche Protest-Angelegenheit ventilirt
wird. Es müsse dem Magistrat doch eigentlich selber wunderlich vor-
kommen, daß er dem Könige eine theologische Abhandlung vortrage, soll
der König dem Magistrate gesagt haben. Allein, sehen Sie die Vos¬
sische Zeitung an, und Sie haben die Berechtigung des Magistrats
zu diesem Vortrage schwarz auf weiß. Dieses eine Interesse hat alle
übrigen verschlungen. Welch' eine Verwandlung, wenn man ein
wenig zurückdenkt! An den Zeiten weiland Hegel's in der Hegel'schen
Schule galten der Rationalismus und der Pietismus für "überwun-


irgend eine Fußbedeckung im ärgsten Sonnenbrand, und ist zufrieden,
wenn er sich täglich 30 Kreuzer W. W. oder 12 Kreuzer C.-M. ver¬
dient; dabei lebt er blos von Wasser und Brot, dem er durch Salz
und B estreichen mit Knoblauch einige Würze zu verleihen sucht, auf
welche Weise es ihm denn auch gelingt, von diesem kargen Lohn
selbst noch Ersparnisse zurückzulegen.

Bei allen Bauten wird man in Wien lediglich Slaven beschäftigt finden.
Als die Direktion der Wien-Gloggnitzcr Eisenbahn den Fortbau der Linie
nach Ungarn, der jetzt so lebhaft betrieben wird, beschlossen hatte, und
zu diesem Behuf durch öffentliche Kundmachung die Brotlosen zur
Arbeit einlud, fanden sich in Folge des niedern Tagclohns nur sehr
Wenige in Wien selbst, und auch diese erklärten, zu diesem Lohne
nicht arbeiten zu können. Darauf erhielt die Bahndirection die Erlaub¬
niß, sich die erforderliche Arbeiterzahl aus Böhmen kommen zu lassen,
und kaum hatten die Kreisämter daselbst durch das Organ der
herrschaftlichen Gutsgerichte die Aufforderung erlassen, als sich statt der
benöthigten 4WV bereits auch schon 6W0 Arbeiter auf den Weg nach
Wien machten, wo sie allerdings mit scheelen Blicken und gelegentli¬
chen Faustschlägen begrüßt wurden; doch der böhmische Landmann ist
an Püffe so gewöhnt, daß ihn ein solcher Empfang nicht einzuschüch¬
tern vermag. Wahrhaft frappant ist die nomadenhafte Art, mit wel¬
cher sich diese Einwanderer alsbald auf freiem Feld ansässig machten,
und es gewährt einen sonderbaren Anblick, diese Leute Abends nach
vollbrachtem Tagewerk auf improvisirten Herden ihre Mahlzeit be¬
reiten zu sehen, und das Schauspiel erreicht den Gipfel der Origi¬
nalität, sobald sie ihre selbstgegrabenen Schlafstellen einnehmen.


II
A u s B e r l i n.

Die Berliner Zeitung interessant. — Wie sich die Zeiten ändern. — Grund der
religiösen Reaction. — Wirrwar der Parteien. — Das aristokratische Element
der Bewegung.

Das Gewirr ist unglaublich groß. Die Zeitung ist jetzt in der
That interessant, hört man in allen Kreisen, hört man von Man¬
nern und Weibern. Nämlich die Vossische. Nämlich wegen der
„Eingesandt", in denen die geistliche Protest-Angelegenheit ventilirt
wird. Es müsse dem Magistrat doch eigentlich selber wunderlich vor-
kommen, daß er dem Könige eine theologische Abhandlung vortrage, soll
der König dem Magistrate gesagt haben. Allein, sehen Sie die Vos¬
sische Zeitung an, und Sie haben die Berechtigung des Magistrats
zu diesem Vortrage schwarz auf weiß. Dieses eine Interesse hat alle
übrigen verschlungen. Welch' eine Verwandlung, wenn man ein
wenig zurückdenkt! An den Zeiten weiland Hegel's in der Hegel'schen
Schule galten der Rationalismus und der Pietismus für „überwun-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/93>, abgerufen am 02.05.2024.