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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Vl.
Notizen.

Die Polizei a!S Eheprocurator. -- Conscience in Prag. -- Teufelaustrei-
bung in der Normandie und elektrische Experimente in Paris.

Folgende wahre Anekdote ist bezeichnend für englische Sitten,
Eine hübsche junge Dame fährt in der ersten Wagenklasse auf der
Eisenbahn von London nach Birmingham. Der einzige Passagier,
der ihre Loge theilt, ist ein fremder junger Mann von artigen Ma¬
nieren. Beide sitzen Stunden lang in den weichen Polstern ihres
Lehnstuhls einander gegenüber, und es ist daher kein Wunder, daß
der junge Mann immer artiger wird. Beim Aussteigen in Bir¬
mingham übersteigt jedoch seine Zuvorkommenheit alle Grenzen eng¬
lischer Etiquette, und er vergißt sich so weit, den reizenden Wangen
seiner Reisegefährtin einen -- Kuß 'zu rauben. Police! Police!
schreit die beleidigte Schöne, ein Constable eilt herbei und verhaftet
den stürmischen Liebhaber; von dieser Art sind die Abenteuer, denen
kühne Liebesritter in Enqland ausgesetzt sind, und die Polizei spielt
dort die Rolle der bösen Onkel und polternden Väter. Vor dem Po¬
lizeihof wird der Sünder mit der Grausamen confrontirt und zu einer
ansehnlichen Geldbuße verurtheilt; er zahlt mit Vergnügen, wie ein
Paladin, der für seine Dame "blutet/" denn er hat inzwischen sich
ernstlich verliebt und bei der gerichtlichen Handlung erfahrt er, was
keine Bitten und Schwüre den Rosenlippen der Miß hatten entlocken
können: ihren Namen, Stand und ihre genaueste Adresse. Auch sie
scheint indessen versöhnlicher gestimmt zu werden und geneigt, ihre
künftigen Küsse nicht mehr so theuer zu verkaufen, denn kaum hat der
junge Mann sich in ihre Familie einführen lassen, so erhalt er Herz
und Hand seiner Schönen. Was sagen unsere Romanschreiberinnen
zu dieser romantischen Liebesgeschichte? Modern ist sie gewiß.

-- Wie muß sich Conscience ausnehmen in czechischer Ueber¬
setzung? Die Prager Zeitschrift "Kwety" bringt nämlich einige No¬
vellen dieses vlämischen Schriftstellers, in's Böhmische übertragen.
So begegnen sich zwei junge Literaturen, die vor zwanzig Jahren
schwerlich eine von der Existenz der andern wußten; zwei Sprach-
und Nationalitätspropaganden, die aus ganz ähnlichen Quellen ent¬
sprungen, auf ganz gleichen Principien beruhend, doch ein so entge¬
gengesetztes Verhältniß zu Deutschland einnehmen und vom deutschen
Nationalintercsse mit so verschiedenen Augen angesehen werden. Der
Czeche hat gar nichts gegen das germanische Element in Belgien, so
wie der Vlaeme Nichts gegen das französische bei den Basken, oder
gegen das slavische in Mähren und Böhmen. Einen czechischen Con¬
science würden aber die Vlaemen schwerlich übersetzen, weil man in
Frankreich nicht aus dem Böhmischen übersetzt; Deutschland, dies ist
das Charakteristische, bleibt doch der unvermeidliche Vermittler für


Vl.
Notizen.

Die Polizei a!S Eheprocurator. — Conscience in Prag. — Teufelaustrei-
bung in der Normandie und elektrische Experimente in Paris.

Folgende wahre Anekdote ist bezeichnend für englische Sitten,
Eine hübsche junge Dame fährt in der ersten Wagenklasse auf der
Eisenbahn von London nach Birmingham. Der einzige Passagier,
der ihre Loge theilt, ist ein fremder junger Mann von artigen Ma¬
nieren. Beide sitzen Stunden lang in den weichen Polstern ihres
Lehnstuhls einander gegenüber, und es ist daher kein Wunder, daß
der junge Mann immer artiger wird. Beim Aussteigen in Bir¬
mingham übersteigt jedoch seine Zuvorkommenheit alle Grenzen eng¬
lischer Etiquette, und er vergißt sich so weit, den reizenden Wangen
seiner Reisegefährtin einen — Kuß 'zu rauben. Police! Police!
schreit die beleidigte Schöne, ein Constable eilt herbei und verhaftet
den stürmischen Liebhaber; von dieser Art sind die Abenteuer, denen
kühne Liebesritter in Enqland ausgesetzt sind, und die Polizei spielt
dort die Rolle der bösen Onkel und polternden Väter. Vor dem Po¬
lizeihof wird der Sünder mit der Grausamen confrontirt und zu einer
ansehnlichen Geldbuße verurtheilt; er zahlt mit Vergnügen, wie ein
Paladin, der für seine Dame „blutet/" denn er hat inzwischen sich
ernstlich verliebt und bei der gerichtlichen Handlung erfahrt er, was
keine Bitten und Schwüre den Rosenlippen der Miß hatten entlocken
können: ihren Namen, Stand und ihre genaueste Adresse. Auch sie
scheint indessen versöhnlicher gestimmt zu werden und geneigt, ihre
künftigen Küsse nicht mehr so theuer zu verkaufen, denn kaum hat der
junge Mann sich in ihre Familie einführen lassen, so erhalt er Herz
und Hand seiner Schönen. Was sagen unsere Romanschreiberinnen
zu dieser romantischen Liebesgeschichte? Modern ist sie gewiß.

— Wie muß sich Conscience ausnehmen in czechischer Ueber¬
setzung? Die Prager Zeitschrift „Kwety" bringt nämlich einige No¬
vellen dieses vlämischen Schriftstellers, in's Böhmische übertragen.
So begegnen sich zwei junge Literaturen, die vor zwanzig Jahren
schwerlich eine von der Existenz der andern wußten; zwei Sprach-
und Nationalitätspropaganden, die aus ganz ähnlichen Quellen ent¬
sprungen, auf ganz gleichen Principien beruhend, doch ein so entge¬
gengesetztes Verhältniß zu Deutschland einnehmen und vom deutschen
Nationalintercsse mit so verschiedenen Augen angesehen werden. Der
Czeche hat gar nichts gegen das germanische Element in Belgien, so
wie der Vlaeme Nichts gegen das französische bei den Basken, oder
gegen das slavische in Mähren und Böhmen. Einen czechischen Con¬
science würden aber die Vlaemen schwerlich übersetzen, weil man in
Frankreich nicht aus dem Böhmischen übersetzt; Deutschland, dies ist
das Charakteristische, bleibt doch der unvermeidliche Vermittler für


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[0478] Vl. Notizen. Die Polizei a!S Eheprocurator. — Conscience in Prag. — Teufelaustrei- bung in der Normandie und elektrische Experimente in Paris. Folgende wahre Anekdote ist bezeichnend für englische Sitten, Eine hübsche junge Dame fährt in der ersten Wagenklasse auf der Eisenbahn von London nach Birmingham. Der einzige Passagier, der ihre Loge theilt, ist ein fremder junger Mann von artigen Ma¬ nieren. Beide sitzen Stunden lang in den weichen Polstern ihres Lehnstuhls einander gegenüber, und es ist daher kein Wunder, daß der junge Mann immer artiger wird. Beim Aussteigen in Bir¬ mingham übersteigt jedoch seine Zuvorkommenheit alle Grenzen eng¬ lischer Etiquette, und er vergißt sich so weit, den reizenden Wangen seiner Reisegefährtin einen — Kuß 'zu rauben. Police! Police! schreit die beleidigte Schöne, ein Constable eilt herbei und verhaftet den stürmischen Liebhaber; von dieser Art sind die Abenteuer, denen kühne Liebesritter in Enqland ausgesetzt sind, und die Polizei spielt dort die Rolle der bösen Onkel und polternden Väter. Vor dem Po¬ lizeihof wird der Sünder mit der Grausamen confrontirt und zu einer ansehnlichen Geldbuße verurtheilt; er zahlt mit Vergnügen, wie ein Paladin, der für seine Dame „blutet/" denn er hat inzwischen sich ernstlich verliebt und bei der gerichtlichen Handlung erfahrt er, was keine Bitten und Schwüre den Rosenlippen der Miß hatten entlocken können: ihren Namen, Stand und ihre genaueste Adresse. Auch sie scheint indessen versöhnlicher gestimmt zu werden und geneigt, ihre künftigen Küsse nicht mehr so theuer zu verkaufen, denn kaum hat der junge Mann sich in ihre Familie einführen lassen, so erhalt er Herz und Hand seiner Schönen. Was sagen unsere Romanschreiberinnen zu dieser romantischen Liebesgeschichte? Modern ist sie gewiß. — Wie muß sich Conscience ausnehmen in czechischer Ueber¬ setzung? Die Prager Zeitschrift „Kwety" bringt nämlich einige No¬ vellen dieses vlämischen Schriftstellers, in's Böhmische übertragen. So begegnen sich zwei junge Literaturen, die vor zwanzig Jahren schwerlich eine von der Existenz der andern wußten; zwei Sprach- und Nationalitätspropaganden, die aus ganz ähnlichen Quellen ent¬ sprungen, auf ganz gleichen Principien beruhend, doch ein so entge¬ gengesetztes Verhältniß zu Deutschland einnehmen und vom deutschen Nationalintercsse mit so verschiedenen Augen angesehen werden. Der Czeche hat gar nichts gegen das germanische Element in Belgien, so wie der Vlaeme Nichts gegen das französische bei den Basken, oder gegen das slavische in Mähren und Böhmen. Einen czechischen Con¬ science würden aber die Vlaemen schwerlich übersetzen, weil man in Frankreich nicht aus dem Böhmischen übersetzt; Deutschland, dies ist das Charakteristische, bleibt doch der unvermeidliche Vermittler für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/478>, abgerufen am 29.04.2024.