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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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alle moderne Cultur in Böhmen, so wie Frankreich es in Belgien
ist. Sehr viele Vlaemen schreiben und lesen besser französisch, als
deutsch, und sehr viele Böhmen verstehen besser deutsch, als slavo¬
nisch. Gewiß, mancher Böhme hat den Puschkin aus Lippert's Ver¬
deutschung kennen gelernt und viele Belgier wissen von Schiller und
Göthe nicht mehr, als was sie durch französische Feuilletonartikel über
sie erfahren haben. Uebrigens ist es auch mehr als wahrscheinlich,
daß die czechischen Uebertragungen von Conscience erst nach einer deut¬
schen Uebersetzung gearbeitet sind.

-- In einem kleinen Städtchen der Normandie zeigt sich plötz¬
lich bei einem dreizehnjährigen Madchen, Mlle. Collin, eine merkwür¬
dige Eigenheit. Sie wird allen Möbeln gefährlich, denen sie nahe
kommt; Sessel und Tische schleudert sie durch die leiseste Berührung
fort oder zertrümmert sie, schwere Kleiderschranke und Bettstätten wirft
sie um, wie ein Goliath, ohne es zu wollen. Der Pfarrer, um
Rath gefragt, behauptet, das Mädchen sei besessen und schickt sich
an, ihr den Teufel auszutreiben. Mlle. Collin hat von
Glück zu sagen, daß sie nicht vor hundert Jahren auf die Welt kam,
sie hätte den Scheiterhaufen besteigen können. Während ihr der Pfar¬
rer den Teusil austreibt, ohne das Geringste auszurichten, kommt
der Arzt dazu, nimmt das Mädchen, als eine physiologische Merk¬
würdigkeit, im Namen der Wissenschaft und des 19. Jahrhunderts
in Beschlag und reist mit ihr nach Paris, wo sie bald durch die Un¬
tersuchungen eines Arago, Verger, Tanchou u. s. w- als "Löwin"
der medicinischen Welt das Tagesgespräch der Salons und ein Arti¬
kel für den Charivari wird. Es stellt sich heraus, daß Mlle. Collin
elektrisch ist, wie der Zitterfisch. Seltsamer Weise ist sie es nur auf
der linken Seite, die Elektrizität strahlt also vielleicht von ihrem Her¬
zen aus. Wenn das schöne Kind nicht curirr wird, sagen die frivo¬
len Zungen der Pariser, so wird das eine gefährliche Schönheit wer¬
den und die Männer auf eine Weise elektrisiren, wie es noch nie
vorgekommen ist. Mlle. Collin selbst aber leidet durch die elektri¬
schen Schläge, die sie austheilt, und wünscht sehnlichst, daß ihr der
Teufel endlich ausgetrieben werde.


Erklärung").

In Ur. 5 der Grenzboten erwähnt die Redaction einer ihr über
den Artikel "Ständisches in Böhmen" zugekommenen Reklamation
mit dem sehr richtigen Beisatze, daß mit Privatberichtigungen und



*) Wir geben dieser aus 'geeigneter Quelle von Prag uns zugekom¬
menen Erklärung Raum, ohne auf eine Kritik ihrer Principien einzugehen.
Ueber den nothwendigen Zusammenhang ständischer Versammlungen mit der
öffentlichen Meinung scheint uns jede Polemik bereits überflüssig.

alle moderne Cultur in Böhmen, so wie Frankreich es in Belgien
ist. Sehr viele Vlaemen schreiben und lesen besser französisch, als
deutsch, und sehr viele Böhmen verstehen besser deutsch, als slavo¬
nisch. Gewiß, mancher Böhme hat den Puschkin aus Lippert's Ver¬
deutschung kennen gelernt und viele Belgier wissen von Schiller und
Göthe nicht mehr, als was sie durch französische Feuilletonartikel über
sie erfahren haben. Uebrigens ist es auch mehr als wahrscheinlich,
daß die czechischen Uebertragungen von Conscience erst nach einer deut¬
schen Uebersetzung gearbeitet sind.

— In einem kleinen Städtchen der Normandie zeigt sich plötz¬
lich bei einem dreizehnjährigen Madchen, Mlle. Collin, eine merkwür¬
dige Eigenheit. Sie wird allen Möbeln gefährlich, denen sie nahe
kommt; Sessel und Tische schleudert sie durch die leiseste Berührung
fort oder zertrümmert sie, schwere Kleiderschranke und Bettstätten wirft
sie um, wie ein Goliath, ohne es zu wollen. Der Pfarrer, um
Rath gefragt, behauptet, das Mädchen sei besessen und schickt sich
an, ihr den Teufel auszutreiben. Mlle. Collin hat von
Glück zu sagen, daß sie nicht vor hundert Jahren auf die Welt kam,
sie hätte den Scheiterhaufen besteigen können. Während ihr der Pfar¬
rer den Teusil austreibt, ohne das Geringste auszurichten, kommt
der Arzt dazu, nimmt das Mädchen, als eine physiologische Merk¬
würdigkeit, im Namen der Wissenschaft und des 19. Jahrhunderts
in Beschlag und reist mit ihr nach Paris, wo sie bald durch die Un¬
tersuchungen eines Arago, Verger, Tanchou u. s. w- als „Löwin"
der medicinischen Welt das Tagesgespräch der Salons und ein Arti¬
kel für den Charivari wird. Es stellt sich heraus, daß Mlle. Collin
elektrisch ist, wie der Zitterfisch. Seltsamer Weise ist sie es nur auf
der linken Seite, die Elektrizität strahlt also vielleicht von ihrem Her¬
zen aus. Wenn das schöne Kind nicht curirr wird, sagen die frivo¬
len Zungen der Pariser, so wird das eine gefährliche Schönheit wer¬
den und die Männer auf eine Weise elektrisiren, wie es noch nie
vorgekommen ist. Mlle. Collin selbst aber leidet durch die elektri¬
schen Schläge, die sie austheilt, und wünscht sehnlichst, daß ihr der
Teufel endlich ausgetrieben werde.


Erklärung»).

In Ur. 5 der Grenzboten erwähnt die Redaction einer ihr über
den Artikel „Ständisches in Böhmen" zugekommenen Reklamation
mit dem sehr richtigen Beisatze, daß mit Privatberichtigungen und



*) Wir geben dieser aus 'geeigneter Quelle von Prag uns zugekom¬
menen Erklärung Raum, ohne auf eine Kritik ihrer Principien einzugehen.
Ueber den nothwendigen Zusammenhang ständischer Versammlungen mit der
öffentlichen Meinung scheint uns jede Polemik bereits überflüssig.
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[0479] alle moderne Cultur in Böhmen, so wie Frankreich es in Belgien ist. Sehr viele Vlaemen schreiben und lesen besser französisch, als deutsch, und sehr viele Böhmen verstehen besser deutsch, als slavo¬ nisch. Gewiß, mancher Böhme hat den Puschkin aus Lippert's Ver¬ deutschung kennen gelernt und viele Belgier wissen von Schiller und Göthe nicht mehr, als was sie durch französische Feuilletonartikel über sie erfahren haben. Uebrigens ist es auch mehr als wahrscheinlich, daß die czechischen Uebertragungen von Conscience erst nach einer deut¬ schen Uebersetzung gearbeitet sind. — In einem kleinen Städtchen der Normandie zeigt sich plötz¬ lich bei einem dreizehnjährigen Madchen, Mlle. Collin, eine merkwür¬ dige Eigenheit. Sie wird allen Möbeln gefährlich, denen sie nahe kommt; Sessel und Tische schleudert sie durch die leiseste Berührung fort oder zertrümmert sie, schwere Kleiderschranke und Bettstätten wirft sie um, wie ein Goliath, ohne es zu wollen. Der Pfarrer, um Rath gefragt, behauptet, das Mädchen sei besessen und schickt sich an, ihr den Teufel auszutreiben. Mlle. Collin hat von Glück zu sagen, daß sie nicht vor hundert Jahren auf die Welt kam, sie hätte den Scheiterhaufen besteigen können. Während ihr der Pfar¬ rer den Teusil austreibt, ohne das Geringste auszurichten, kommt der Arzt dazu, nimmt das Mädchen, als eine physiologische Merk¬ würdigkeit, im Namen der Wissenschaft und des 19. Jahrhunderts in Beschlag und reist mit ihr nach Paris, wo sie bald durch die Un¬ tersuchungen eines Arago, Verger, Tanchou u. s. w- als „Löwin" der medicinischen Welt das Tagesgespräch der Salons und ein Arti¬ kel für den Charivari wird. Es stellt sich heraus, daß Mlle. Collin elektrisch ist, wie der Zitterfisch. Seltsamer Weise ist sie es nur auf der linken Seite, die Elektrizität strahlt also vielleicht von ihrem Her¬ zen aus. Wenn das schöne Kind nicht curirr wird, sagen die frivo¬ len Zungen der Pariser, so wird das eine gefährliche Schönheit wer¬ den und die Männer auf eine Weise elektrisiren, wie es noch nie vorgekommen ist. Mlle. Collin selbst aber leidet durch die elektri¬ schen Schläge, die sie austheilt, und wünscht sehnlichst, daß ihr der Teufel endlich ausgetrieben werde. Erklärung»). In Ur. 5 der Grenzboten erwähnt die Redaction einer ihr über den Artikel „Ständisches in Böhmen" zugekommenen Reklamation mit dem sehr richtigen Beisatze, daß mit Privatberichtigungen und *) Wir geben dieser aus 'geeigneter Quelle von Prag uns zugekom¬ menen Erklärung Raum, ohne auf eine Kritik ihrer Principien einzugehen. Ueber den nothwendigen Zusammenhang ständischer Versammlungen mit der öffentlichen Meinung scheint uns jede Polemik bereits überflüssig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/479>, abgerufen am 28.04.2024.