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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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selbst zu reden, dem Reich der Finsterniß." Wenn aus Frankreich
in einigen Jahrzehenden eine neue Revolution hervorgehen sollte, so
wird sie radicaler sein, als die erste; das ist gewiß. Im Namen des
Evangeliums lassen sich noch ganz andere Umwälzungen unternehmen,
als in dem der Göttin Vernunft. Es kommt nur auf den Commen-
tar an. Der sogenannte atheistische Eommunismus, von dem die
Gespensterseher in Deutschland fabeln, ist es nicht, der eine Macht
werden könnte, aber im evangelischen Radikalismus, im revolutionären
Christenthum, wenn ich so sagen darf, schlummert ein furchtbarer
Riese. Un'd die Bibel kann man heutzutage nicht verbieten.

Doch das mögen Sie immerhin für müssige Träume halten.
In literarischer Hinsicht wird man das meiste Gewicht auf den sty¬
listischen Werth von Lamennais' Uebersetzung legen. Denn die Ueber-,
fttzung der 4 Evangelisten bildet den Fond des Werkes; daß sie glän¬
zend ausgefallen ist, können Sie sich denken. Lamennais war viel¬
leicht der einzige Mann in Frankreich, der einer solchen Arbeit ge¬
wachsen war. Franzosen, welchen Luther's Bibel unzugänglich ist und
welche der Sprödigkeit, des glatten Idioms von Racine sich bewußt
sind, sagen in ihrem Enthusiasmus: Lamennais hat von der Stirne
jenes Christus, den die Nationen auf ihren Knieen anbeten, den
Staub der Jahrhunderte hinweggewischt!!!

Der Commentar von Lamennais befindet sich unter dem Text
auf jeder Seite; da sind die Noten oft sehr kurz; epigrammatische
Erinnerungen an historische Ereignisse. Jede Abtheilung des Textes
hat einen Anhang von längern Reflexionen, oder von Schotten, worin
der Autor mit den "Schriftgelehrten" spricht und gleichsam den Tal¬
mud des Neuen Testamentes, die katholische Kirchengelehrsamkeit be¬
kämpft.


II.
Ans Brüssel.

Die polnischen Flüchtlinge in Brüssel. -- Sarmatische Charakterschwächen und
Borzüge. -- Die deutchen Zeitungen. -- Die Ministevrrisis--Nothomb und
Ban de Weyer. -- Nochgedrungene Politik -- Belgien und die Schweiz. --
Ein polnisch-belgischer Offizier.' --

Sie können sich denken, daß die polnischen Unruhen auch
hier das Tagesgespräch bilden; Peel's Aollreform, die dreitägige Sikh-
schlacht und der Tunnel von Cumptich mit Herrn de Ritter sind
dadurch fast in den Hintergrund geschoben worden. Leider ist das
Interesse am Schicksal der Polen diesmal nicht, wie 1830, von
enthusiastischer Hoffnung begleitet; das Schauspiel eines Volkes, das
in der Verzweiflung immer mit dem Kopfe gegen die eiserne Wand
rennt, ist ein sehr trauriges. Die Krakauer Flammen werden bald


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selbst zu reden, dem Reich der Finsterniß." Wenn aus Frankreich
in einigen Jahrzehenden eine neue Revolution hervorgehen sollte, so
wird sie radicaler sein, als die erste; das ist gewiß. Im Namen des
Evangeliums lassen sich noch ganz andere Umwälzungen unternehmen,
als in dem der Göttin Vernunft. Es kommt nur auf den Commen-
tar an. Der sogenannte atheistische Eommunismus, von dem die
Gespensterseher in Deutschland fabeln, ist es nicht, der eine Macht
werden könnte, aber im evangelischen Radikalismus, im revolutionären
Christenthum, wenn ich so sagen darf, schlummert ein furchtbarer
Riese. Un'd die Bibel kann man heutzutage nicht verbieten.

Doch das mögen Sie immerhin für müssige Träume halten.
In literarischer Hinsicht wird man das meiste Gewicht auf den sty¬
listischen Werth von Lamennais' Uebersetzung legen. Denn die Ueber-,
fttzung der 4 Evangelisten bildet den Fond des Werkes; daß sie glän¬
zend ausgefallen ist, können Sie sich denken. Lamennais war viel¬
leicht der einzige Mann in Frankreich, der einer solchen Arbeit ge¬
wachsen war. Franzosen, welchen Luther's Bibel unzugänglich ist und
welche der Sprödigkeit, des glatten Idioms von Racine sich bewußt
sind, sagen in ihrem Enthusiasmus: Lamennais hat von der Stirne
jenes Christus, den die Nationen auf ihren Knieen anbeten, den
Staub der Jahrhunderte hinweggewischt!!!

Der Commentar von Lamennais befindet sich unter dem Text
auf jeder Seite; da sind die Noten oft sehr kurz; epigrammatische
Erinnerungen an historische Ereignisse. Jede Abtheilung des Textes
hat einen Anhang von längern Reflexionen, oder von Schotten, worin
der Autor mit den „Schriftgelehrten" spricht und gleichsam den Tal¬
mud des Neuen Testamentes, die katholische Kirchengelehrsamkeit be¬
kämpft.


II.
Ans Brüssel.

Die polnischen Flüchtlinge in Brüssel. — Sarmatische Charakterschwächen und
Borzüge. — Die deutchen Zeitungen. — Die Ministevrrisis--Nothomb und
Ban de Weyer. — Nochgedrungene Politik — Belgien und die Schweiz. —
Ein polnisch-belgischer Offizier.' —

Sie können sich denken, daß die polnischen Unruhen auch
hier das Tagesgespräch bilden; Peel's Aollreform, die dreitägige Sikh-
schlacht und der Tunnel von Cumptich mit Herrn de Ritter sind
dadurch fast in den Hintergrund geschoben worden. Leider ist das
Interesse am Schicksal der Polen diesmal nicht, wie 1830, von
enthusiastischer Hoffnung begleitet; das Schauspiel eines Volkes, das
in der Verzweiflung immer mit dem Kopfe gegen die eiserne Wand
rennt, ist ein sehr trauriges. Die Krakauer Flammen werden bald


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[0557] selbst zu reden, dem Reich der Finsterniß." Wenn aus Frankreich in einigen Jahrzehenden eine neue Revolution hervorgehen sollte, so wird sie radicaler sein, als die erste; das ist gewiß. Im Namen des Evangeliums lassen sich noch ganz andere Umwälzungen unternehmen, als in dem der Göttin Vernunft. Es kommt nur auf den Commen- tar an. Der sogenannte atheistische Eommunismus, von dem die Gespensterseher in Deutschland fabeln, ist es nicht, der eine Macht werden könnte, aber im evangelischen Radikalismus, im revolutionären Christenthum, wenn ich so sagen darf, schlummert ein furchtbarer Riese. Un'd die Bibel kann man heutzutage nicht verbieten. Doch das mögen Sie immerhin für müssige Träume halten. In literarischer Hinsicht wird man das meiste Gewicht auf den sty¬ listischen Werth von Lamennais' Uebersetzung legen. Denn die Ueber-, fttzung der 4 Evangelisten bildet den Fond des Werkes; daß sie glän¬ zend ausgefallen ist, können Sie sich denken. Lamennais war viel¬ leicht der einzige Mann in Frankreich, der einer solchen Arbeit ge¬ wachsen war. Franzosen, welchen Luther's Bibel unzugänglich ist und welche der Sprödigkeit, des glatten Idioms von Racine sich bewußt sind, sagen in ihrem Enthusiasmus: Lamennais hat von der Stirne jenes Christus, den die Nationen auf ihren Knieen anbeten, den Staub der Jahrhunderte hinweggewischt!!! Der Commentar von Lamennais befindet sich unter dem Text auf jeder Seite; da sind die Noten oft sehr kurz; epigrammatische Erinnerungen an historische Ereignisse. Jede Abtheilung des Textes hat einen Anhang von längern Reflexionen, oder von Schotten, worin der Autor mit den „Schriftgelehrten" spricht und gleichsam den Tal¬ mud des Neuen Testamentes, die katholische Kirchengelehrsamkeit be¬ kämpft. II. Ans Brüssel. Die polnischen Flüchtlinge in Brüssel. — Sarmatische Charakterschwächen und Borzüge. — Die deutchen Zeitungen. — Die Ministevrrisis--Nothomb und Ban de Weyer. — Nochgedrungene Politik — Belgien und die Schweiz. — Ein polnisch-belgischer Offizier.' — Sie können sich denken, daß die polnischen Unruhen auch hier das Tagesgespräch bilden; Peel's Aollreform, die dreitägige Sikh- schlacht und der Tunnel von Cumptich mit Herrn de Ritter sind dadurch fast in den Hintergrund geschoben worden. Leider ist das Interesse am Schicksal der Polen diesmal nicht, wie 1830, von enthusiastischer Hoffnung begleitet; das Schauspiel eines Volkes, das in der Verzweiflung immer mit dem Kopfe gegen die eiserne Wand rennt, ist ein sehr trauriges. Die Krakauer Flammen werden bald «Lrenzboten l»»0. I. 7t>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/557>, abgerufen am 29.04.2024.