Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite



I.

Westphalen befindet sich in einer ähnlichen Lage, wie ein Jüngling,
der zum ersten Male zur Universität reif't, wie eine Braut am Vor¬
abende ihres Hochzeitstages. An der Schwelle einer verlebten Periode
sieht es einer Zukunft entgegen, die von der Vergangenheit zu sehr
verschieden ist, als daß die Erwartung derselben uicht von peinigender
Ungewißheit und bangem Herzklopfen, aber auch von freudigen Hoff¬
nungen, begleitet sein sollte. Was der Völkerwanderung fehlschlug,
was den Siegen des großen Karl nicht gelang, was die Kreuzzüge
nicht bewerkstelligen konnten, woran Reformatoren und Wiedertäufer
ihre Kräfte erfolglos versuchten; das gelingt in unserer Zeit den ver¬
einten Anstrengungen des Dampfes und der öffentlichen Meinung:
nämlich: Westphalen aus seiner Jsolirung herauszureißen und in eine
innige, lebendige Verbindung mit den andern Theilen unsers gemein¬
samen deutschen Vaterlandes zu bringen. Bis heute noch steht der
Westphale einsam in der civilisirten Welt da, und muß bemerken, wie
man draußen, jenseits der Marken, die seine Provinz von den Nach¬
barn trennen, nicht den biedern, kernigen Volkscharakter, nicht das tiefe
Gemüth, nicht die gewaltige Energie und Thatkraft, nicht den durch¬
dringenden, kritischen Verstand, nicht die Ehrlichkeit und Offenheit sei¬
ner Landsleute kennt, sondern daß das Einzige, was man in der Fremde
von der Heimath weiß, Schinken und Pumpernickel, eine rauhe, bar¬
barische Sprache, und wenn es hoch kommt, der westphälische Merkur
und die Nonnen des Pater Goßler sind. Dem wird künstig anders
sein. Die Eisenbahnen, an denen rüstig gebaut wird, die öffentliche
Meinung, deren Macht jetzt schon auch bei uns täglich mit Riesen¬
schritten wächst, und die, wenn die Locomotive einmal erst durch's Land


Grenzboten. III. !8i". 49



I.

Westphalen befindet sich in einer ähnlichen Lage, wie ein Jüngling,
der zum ersten Male zur Universität reif't, wie eine Braut am Vor¬
abende ihres Hochzeitstages. An der Schwelle einer verlebten Periode
sieht es einer Zukunft entgegen, die von der Vergangenheit zu sehr
verschieden ist, als daß die Erwartung derselben uicht von peinigender
Ungewißheit und bangem Herzklopfen, aber auch von freudigen Hoff¬
nungen, begleitet sein sollte. Was der Völkerwanderung fehlschlug,
was den Siegen des großen Karl nicht gelang, was die Kreuzzüge
nicht bewerkstelligen konnten, woran Reformatoren und Wiedertäufer
ihre Kräfte erfolglos versuchten; das gelingt in unserer Zeit den ver¬
einten Anstrengungen des Dampfes und der öffentlichen Meinung:
nämlich: Westphalen aus seiner Jsolirung herauszureißen und in eine
innige, lebendige Verbindung mit den andern Theilen unsers gemein¬
samen deutschen Vaterlandes zu bringen. Bis heute noch steht der
Westphale einsam in der civilisirten Welt da, und muß bemerken, wie
man draußen, jenseits der Marken, die seine Provinz von den Nach¬
barn trennen, nicht den biedern, kernigen Volkscharakter, nicht das tiefe
Gemüth, nicht die gewaltige Energie und Thatkraft, nicht den durch¬
dringenden, kritischen Verstand, nicht die Ehrlichkeit und Offenheit sei¬
ner Landsleute kennt, sondern daß das Einzige, was man in der Fremde
von der Heimath weiß, Schinken und Pumpernickel, eine rauhe, bar¬
barische Sprache, und wenn es hoch kommt, der westphälische Merkur
und die Nonnen des Pater Goßler sind. Dem wird künstig anders
sein. Die Eisenbahnen, an denen rüstig gebaut wird, die öffentliche
Meinung, deren Macht jetzt schon auch bei uns täglich mit Riesen¬
schritten wächst, und die, wenn die Locomotive einmal erst durch's Land


Grenzboten. III. !8i«. 49
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0367" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183388"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head/><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="2">
            <head> I.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1088" next="#ID_1089"> Westphalen befindet sich in einer ähnlichen Lage, wie ein Jüngling,<lb/>
der zum ersten Male zur Universität reif't, wie eine Braut am Vor¬<lb/>
abende ihres Hochzeitstages. An der Schwelle einer verlebten Periode<lb/>
sieht es einer Zukunft entgegen, die von der Vergangenheit zu sehr<lb/>
verschieden ist, als daß die Erwartung derselben uicht von peinigender<lb/>
Ungewißheit und bangem Herzklopfen, aber auch von freudigen Hoff¬<lb/>
nungen, begleitet sein sollte. Was der Völkerwanderung fehlschlug,<lb/>
was den Siegen des großen Karl nicht gelang, was die Kreuzzüge<lb/>
nicht bewerkstelligen konnten, woran Reformatoren und Wiedertäufer<lb/>
ihre Kräfte erfolglos versuchten; das gelingt in unserer Zeit den ver¬<lb/>
einten Anstrengungen des Dampfes und der öffentlichen Meinung:<lb/>
nämlich: Westphalen aus seiner Jsolirung herauszureißen und in eine<lb/>
innige, lebendige Verbindung mit den andern Theilen unsers gemein¬<lb/>
samen deutschen Vaterlandes zu bringen. Bis heute noch steht der<lb/>
Westphale einsam in der civilisirten Welt da, und muß bemerken, wie<lb/>
man draußen, jenseits der Marken, die seine Provinz von den Nach¬<lb/>
barn trennen, nicht den biedern, kernigen Volkscharakter, nicht das tiefe<lb/>
Gemüth, nicht die gewaltige Energie und Thatkraft, nicht den durch¬<lb/>
dringenden, kritischen Verstand, nicht die Ehrlichkeit und Offenheit sei¬<lb/>
ner Landsleute kennt, sondern daß das Einzige, was man in der Fremde<lb/>
von der Heimath weiß, Schinken und Pumpernickel, eine rauhe, bar¬<lb/>
barische Sprache, und wenn es hoch kommt, der westphälische Merkur<lb/>
und die Nonnen des Pater Goßler sind. Dem wird künstig anders<lb/>
sein. Die Eisenbahnen, an denen rüstig gebaut wird, die öffentliche<lb/>
Meinung, deren Macht jetzt schon auch bei uns täglich mit Riesen¬<lb/>
schritten wächst, und die, wenn die Locomotive einmal erst durch's Land</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. III. !8i«. 49</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0367] I. Westphalen befindet sich in einer ähnlichen Lage, wie ein Jüngling, der zum ersten Male zur Universität reif't, wie eine Braut am Vor¬ abende ihres Hochzeitstages. An der Schwelle einer verlebten Periode sieht es einer Zukunft entgegen, die von der Vergangenheit zu sehr verschieden ist, als daß die Erwartung derselben uicht von peinigender Ungewißheit und bangem Herzklopfen, aber auch von freudigen Hoff¬ nungen, begleitet sein sollte. Was der Völkerwanderung fehlschlug, was den Siegen des großen Karl nicht gelang, was die Kreuzzüge nicht bewerkstelligen konnten, woran Reformatoren und Wiedertäufer ihre Kräfte erfolglos versuchten; das gelingt in unserer Zeit den ver¬ einten Anstrengungen des Dampfes und der öffentlichen Meinung: nämlich: Westphalen aus seiner Jsolirung herauszureißen und in eine innige, lebendige Verbindung mit den andern Theilen unsers gemein¬ samen deutschen Vaterlandes zu bringen. Bis heute noch steht der Westphale einsam in der civilisirten Welt da, und muß bemerken, wie man draußen, jenseits der Marken, die seine Provinz von den Nach¬ barn trennen, nicht den biedern, kernigen Volkscharakter, nicht das tiefe Gemüth, nicht die gewaltige Energie und Thatkraft, nicht den durch¬ dringenden, kritischen Verstand, nicht die Ehrlichkeit und Offenheit sei¬ ner Landsleute kennt, sondern daß das Einzige, was man in der Fremde von der Heimath weiß, Schinken und Pumpernickel, eine rauhe, bar¬ barische Sprache, und wenn es hoch kommt, der westphälische Merkur und die Nonnen des Pater Goßler sind. Dem wird künstig anders sein. Die Eisenbahnen, an denen rüstig gebaut wird, die öffentliche Meinung, deren Macht jetzt schon auch bei uns täglich mit Riesen¬ schritten wächst, und die, wenn die Locomotive einmal erst durch's Land Grenzboten. III. !8i«. 49

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/367
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/367>, abgerufen am 04.05.2024.