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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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dy'sches Gedicht gezaubert wäre! Gut! Marie -- der Name paßt, eig¬
net sich recht schön zu Jamben. Freilich "Friederike" klingt -- er
verdoppelte seine Schritte mit einer Hast, die im grellsten Widerspruche
stand zur festtäglichen Ruhe der Natur. --


IV.

Die kirchlichen Feierlichkeiten waren vorüber, der Tag neigte sich
zu einem milden Abende. Reichenau'S Bewohner saßen auf den stei¬
nernen Bänken vor ihren Thüren, um die warme Frühlingsluft zu ge¬
nießen und traulich mit einander zu plaudern. Auf dem Plateau der
breiten, mit einem Eisengeländer umschlossenen steinernen Treppe, welche
zum Eingang des Pfarrhauses führte, saß Mariechen auf einem Stuhle,
der Gartentisch, welcher neben ihr stand, prangte mit einer Vase fri¬
scher Frühlingsblumen und einem Kranze jungen Eichenlaubes, wahr¬
scheinlich von Mariechens höchsteignen Händchen gewunden. Sie
stützte mit der Linken das Haupt; während sie in der Rechten ein auf¬
geschlagenes Buch hielt, aber mit einer so naiven, unbeholfenen Gleich¬
gültigkeit, daß man ihr ansah, wie diese wissenschaftlichen Bestrebungen
zu den ungewohnten Arbeiten gehörten, zu denen sie etwa in der Ver¬
zweiflung der ersten Festtags-Langweile griff. Der Erste -- grä߬
licher Gedanke für ein junges Mädchen, das wie Mariechen ein Jahr
in der Residenz gewesen ist, auf dem letzten Balle nicht ein einziges
Mal geschimmelt, in der geistreichen Ballade: Zaubertanz, ver¬
gangene Fastenzeit die entzaubernde Fee mit dem Lilienstengel darge¬
stellt hat und die Proch'schen Schweizerlieder singt. Gräßlicher Ge¬
danke! der nicht zu ertragen wäre, wenn seine Bürde nicht durch die
Träume und Hoffnungen auf den Zweiten erleichtert würde; -- nicht
einmal das Stricken ist gestattet, und da es wohl einer soliden Pre¬
digerstochter nicht zu verdenken, wenn sie in des Vaters staubige
Bibliothek greift, Milton's "Verlornes Paradies" erhascht, und sich in
glänzender Resignation vor die Thüre setzt, um abwechselnd von dem
morgenden Ball zu träumen, in dem Buche zu blättern und zu gähnen.

Während diese dreifache Beschäftigung ihren Jdeenkreis hinläng¬
lich in Anspruch nimmt, haben wir ungestört Gelegenheit, sie etwas
näher zu betrachten. Ihre Gestalt ist hoch und schlank, jedoch ohne
die elastische Fülle, welche nothwendig dazu gehört, um einem solchen
Wuchse Reiz und Bedeutung zu verleihen; die vollen, runden Arme
scheinen nur da zu sein, um ein Paar langweilige Füße, aus denen
nicht eben allzu weiße Strümpfe kerzengerade herausschlottern, zu ver-


Grcnzbote", 1840. II. 38

dy'sches Gedicht gezaubert wäre! Gut! Marie — der Name paßt, eig¬
net sich recht schön zu Jamben. Freilich „Friederike" klingt — er
verdoppelte seine Schritte mit einer Hast, die im grellsten Widerspruche
stand zur festtäglichen Ruhe der Natur. —


IV.

Die kirchlichen Feierlichkeiten waren vorüber, der Tag neigte sich
zu einem milden Abende. Reichenau'S Bewohner saßen auf den stei¬
nernen Bänken vor ihren Thüren, um die warme Frühlingsluft zu ge¬
nießen und traulich mit einander zu plaudern. Auf dem Plateau der
breiten, mit einem Eisengeländer umschlossenen steinernen Treppe, welche
zum Eingang des Pfarrhauses führte, saß Mariechen auf einem Stuhle,
der Gartentisch, welcher neben ihr stand, prangte mit einer Vase fri¬
scher Frühlingsblumen und einem Kranze jungen Eichenlaubes, wahr¬
scheinlich von Mariechens höchsteignen Händchen gewunden. Sie
stützte mit der Linken das Haupt; während sie in der Rechten ein auf¬
geschlagenes Buch hielt, aber mit einer so naiven, unbeholfenen Gleich¬
gültigkeit, daß man ihr ansah, wie diese wissenschaftlichen Bestrebungen
zu den ungewohnten Arbeiten gehörten, zu denen sie etwa in der Ver¬
zweiflung der ersten Festtags-Langweile griff. Der Erste — grä߬
licher Gedanke für ein junges Mädchen, das wie Mariechen ein Jahr
in der Residenz gewesen ist, auf dem letzten Balle nicht ein einziges
Mal geschimmelt, in der geistreichen Ballade: Zaubertanz, ver¬
gangene Fastenzeit die entzaubernde Fee mit dem Lilienstengel darge¬
stellt hat und die Proch'schen Schweizerlieder singt. Gräßlicher Ge¬
danke! der nicht zu ertragen wäre, wenn seine Bürde nicht durch die
Träume und Hoffnungen auf den Zweiten erleichtert würde; — nicht
einmal das Stricken ist gestattet, und da es wohl einer soliden Pre¬
digerstochter nicht zu verdenken, wenn sie in des Vaters staubige
Bibliothek greift, Milton's „Verlornes Paradies" erhascht, und sich in
glänzender Resignation vor die Thüre setzt, um abwechselnd von dem
morgenden Ball zu träumen, in dem Buche zu blättern und zu gähnen.

Während diese dreifache Beschäftigung ihren Jdeenkreis hinläng¬
lich in Anspruch nimmt, haben wir ungestört Gelegenheit, sie etwas
näher zu betrachten. Ihre Gestalt ist hoch und schlank, jedoch ohne
die elastische Fülle, welche nothwendig dazu gehört, um einem solchen
Wuchse Reiz und Bedeutung zu verleihen; die vollen, runden Arme
scheinen nur da zu sein, um ein Paar langweilige Füße, aus denen
nicht eben allzu weiße Strümpfe kerzengerade herausschlottern, zu ver-


Grcnzbote», 1840. II. 38
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[0305] dy'sches Gedicht gezaubert wäre! Gut! Marie — der Name paßt, eig¬ net sich recht schön zu Jamben. Freilich „Friederike" klingt — er verdoppelte seine Schritte mit einer Hast, die im grellsten Widerspruche stand zur festtäglichen Ruhe der Natur. — IV. Die kirchlichen Feierlichkeiten waren vorüber, der Tag neigte sich zu einem milden Abende. Reichenau'S Bewohner saßen auf den stei¬ nernen Bänken vor ihren Thüren, um die warme Frühlingsluft zu ge¬ nießen und traulich mit einander zu plaudern. Auf dem Plateau der breiten, mit einem Eisengeländer umschlossenen steinernen Treppe, welche zum Eingang des Pfarrhauses führte, saß Mariechen auf einem Stuhle, der Gartentisch, welcher neben ihr stand, prangte mit einer Vase fri¬ scher Frühlingsblumen und einem Kranze jungen Eichenlaubes, wahr¬ scheinlich von Mariechens höchsteignen Händchen gewunden. Sie stützte mit der Linken das Haupt; während sie in der Rechten ein auf¬ geschlagenes Buch hielt, aber mit einer so naiven, unbeholfenen Gleich¬ gültigkeit, daß man ihr ansah, wie diese wissenschaftlichen Bestrebungen zu den ungewohnten Arbeiten gehörten, zu denen sie etwa in der Ver¬ zweiflung der ersten Festtags-Langweile griff. Der Erste — grä߬ licher Gedanke für ein junges Mädchen, das wie Mariechen ein Jahr in der Residenz gewesen ist, auf dem letzten Balle nicht ein einziges Mal geschimmelt, in der geistreichen Ballade: Zaubertanz, ver¬ gangene Fastenzeit die entzaubernde Fee mit dem Lilienstengel darge¬ stellt hat und die Proch'schen Schweizerlieder singt. Gräßlicher Ge¬ danke! der nicht zu ertragen wäre, wenn seine Bürde nicht durch die Träume und Hoffnungen auf den Zweiten erleichtert würde; — nicht einmal das Stricken ist gestattet, und da es wohl einer soliden Pre¬ digerstochter nicht zu verdenken, wenn sie in des Vaters staubige Bibliothek greift, Milton's „Verlornes Paradies" erhascht, und sich in glänzender Resignation vor die Thüre setzt, um abwechselnd von dem morgenden Ball zu träumen, in dem Buche zu blättern und zu gähnen. Während diese dreifache Beschäftigung ihren Jdeenkreis hinläng¬ lich in Anspruch nimmt, haben wir ungestört Gelegenheit, sie etwas näher zu betrachten. Ihre Gestalt ist hoch und schlank, jedoch ohne die elastische Fülle, welche nothwendig dazu gehört, um einem solchen Wuchse Reiz und Bedeutung zu verleihen; die vollen, runden Arme scheinen nur da zu sein, um ein Paar langweilige Füße, aus denen nicht eben allzu weiße Strümpfe kerzengerade herausschlottern, zu ver- Grcnzbote», 1840. II. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/305>, abgerufen am 26.04.2024.