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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Pfarrer studirte seine Predigt auf den andern Tag. Richard wollte
nicht stören, nahm Abschied und war bald allein auf dem Wege an
dem murmelnden Erlenbache.


V.

Der Zweite erschien, und mit der aufgehenden Sonne erwachten
auch schon all' die Ball- und Toilettensorgen, denen die Schönheiten
G.'ö, als wohlgezogene Töchter christlicher Honoratiorenfnmilien, gestern
nur in Gedanken nachhängen konnten. Auch Richard's Zimmer zeigte
frühzeitig Spuren von Leben. Die Gardinen waren aufgezogen, die
Fenster der einströmenden Frühlingsluft weit geöffnet. Erstaunt horch¬
ten die Nachbarn auf die ungewohnte Fröhlichkeit, welche ihnen aus
dem sonst so stillen Stübchen entgegenschallte. Der Herr Doctor blies
Flöte, heitere Bergaricn, welche sich auf eine sehr anmuthige Weise in
Galoppaden auflösten; nur zuweilen schien es, als wollte ein tieferer
Klageton durchzittern, dann aber wieder plötzlich ein so wollüstig stür¬
mischer Walzer, daß das Ohr der zahlreichen Zuhörer nur den letzteren
Eindruck faßte. Die Nachbarsleute warfen sich bedeutungsvolle Blicke
zu und schüttelten in gerechter Entrüstung ob dieser sündhaften Ver¬
letzung der Sabbathsruhe ihr Haupt. Den meisten Anstoß fand das
gottlose Treiben jedoch bei der Frau Actuarin, welche anfangs in
sprachlosem Erstaunen die Stube durchschritt, und dann den inneren
Aerger gegen ihre Tochter ausließ:

"Da siehst Du, Guste, was bei dem ewigen Romanlesen heraus¬
kommt, es wird Dir noch gerade so den Kopf verdrehen, wie drüben
dem Doctor, der -- Gott verzeih' mir die Sünde, daß ich einem Chri-
stenmenschen so etwas nachsagen muß -- selber solche heillose Bücher
schreiben soll. Ist mir denn je schon so etwas vorgekommen, am hellen
Festmorgen so heidnisch zu mustciren; -- ich glaube gar, er tanzt auch
dazu. Nun, der Herr sei seiner Seele gnädig und bewahre uns vor
seiner Gesellschaft!"

Auf solche und ähnliche Weise machte die Frau Actuarin, die --
beiläufig gesagt -- auch aus anderen Gründen eine specielle Malice
auf Dr. Richard hatte, ihrem gepreßten Herzen Luft, und suchte ihr
emportes Neligionsgefühl zu beschwichtigen. Auguste jedoch, ihre eben
den Kindesjahren entwachsene Tochter, lauschte aufmerksam hinüber,
und wandte ihre klugen, lebensfroher Augen nicht von dem geöffneten
Nachbarsfenster weg. An dergleichen mütterliche Lectionen mochte sie
wohl gewöhnt sein, denn sie bethätigte bald auf eine liebenswürdige


Pfarrer studirte seine Predigt auf den andern Tag. Richard wollte
nicht stören, nahm Abschied und war bald allein auf dem Wege an
dem murmelnden Erlenbache.


V.

Der Zweite erschien, und mit der aufgehenden Sonne erwachten
auch schon all' die Ball- und Toilettensorgen, denen die Schönheiten
G.'ö, als wohlgezogene Töchter christlicher Honoratiorenfnmilien, gestern
nur in Gedanken nachhängen konnten. Auch Richard's Zimmer zeigte
frühzeitig Spuren von Leben. Die Gardinen waren aufgezogen, die
Fenster der einströmenden Frühlingsluft weit geöffnet. Erstaunt horch¬
ten die Nachbarn auf die ungewohnte Fröhlichkeit, welche ihnen aus
dem sonst so stillen Stübchen entgegenschallte. Der Herr Doctor blies
Flöte, heitere Bergaricn, welche sich auf eine sehr anmuthige Weise in
Galoppaden auflösten; nur zuweilen schien es, als wollte ein tieferer
Klageton durchzittern, dann aber wieder plötzlich ein so wollüstig stür¬
mischer Walzer, daß das Ohr der zahlreichen Zuhörer nur den letzteren
Eindruck faßte. Die Nachbarsleute warfen sich bedeutungsvolle Blicke
zu und schüttelten in gerechter Entrüstung ob dieser sündhaften Ver¬
letzung der Sabbathsruhe ihr Haupt. Den meisten Anstoß fand das
gottlose Treiben jedoch bei der Frau Actuarin, welche anfangs in
sprachlosem Erstaunen die Stube durchschritt, und dann den inneren
Aerger gegen ihre Tochter ausließ:

„Da siehst Du, Guste, was bei dem ewigen Romanlesen heraus¬
kommt, es wird Dir noch gerade so den Kopf verdrehen, wie drüben
dem Doctor, der — Gott verzeih' mir die Sünde, daß ich einem Chri-
stenmenschen so etwas nachsagen muß — selber solche heillose Bücher
schreiben soll. Ist mir denn je schon so etwas vorgekommen, am hellen
Festmorgen so heidnisch zu mustciren; — ich glaube gar, er tanzt auch
dazu. Nun, der Herr sei seiner Seele gnädig und bewahre uns vor
seiner Gesellschaft!"

Auf solche und ähnliche Weise machte die Frau Actuarin, die —
beiläufig gesagt — auch aus anderen Gründen eine specielle Malice
auf Dr. Richard hatte, ihrem gepreßten Herzen Luft, und suchte ihr
emportes Neligionsgefühl zu beschwichtigen. Auguste jedoch, ihre eben
den Kindesjahren entwachsene Tochter, lauschte aufmerksam hinüber,
und wandte ihre klugen, lebensfroher Augen nicht von dem geöffneten
Nachbarsfenster weg. An dergleichen mütterliche Lectionen mochte sie
wohl gewöhnt sein, denn sie bethätigte bald auf eine liebenswürdige


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[0309] Pfarrer studirte seine Predigt auf den andern Tag. Richard wollte nicht stören, nahm Abschied und war bald allein auf dem Wege an dem murmelnden Erlenbache. V. Der Zweite erschien, und mit der aufgehenden Sonne erwachten auch schon all' die Ball- und Toilettensorgen, denen die Schönheiten G.'ö, als wohlgezogene Töchter christlicher Honoratiorenfnmilien, gestern nur in Gedanken nachhängen konnten. Auch Richard's Zimmer zeigte frühzeitig Spuren von Leben. Die Gardinen waren aufgezogen, die Fenster der einströmenden Frühlingsluft weit geöffnet. Erstaunt horch¬ ten die Nachbarn auf die ungewohnte Fröhlichkeit, welche ihnen aus dem sonst so stillen Stübchen entgegenschallte. Der Herr Doctor blies Flöte, heitere Bergaricn, welche sich auf eine sehr anmuthige Weise in Galoppaden auflösten; nur zuweilen schien es, als wollte ein tieferer Klageton durchzittern, dann aber wieder plötzlich ein so wollüstig stür¬ mischer Walzer, daß das Ohr der zahlreichen Zuhörer nur den letzteren Eindruck faßte. Die Nachbarsleute warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu und schüttelten in gerechter Entrüstung ob dieser sündhaften Ver¬ letzung der Sabbathsruhe ihr Haupt. Den meisten Anstoß fand das gottlose Treiben jedoch bei der Frau Actuarin, welche anfangs in sprachlosem Erstaunen die Stube durchschritt, und dann den inneren Aerger gegen ihre Tochter ausließ: „Da siehst Du, Guste, was bei dem ewigen Romanlesen heraus¬ kommt, es wird Dir noch gerade so den Kopf verdrehen, wie drüben dem Doctor, der — Gott verzeih' mir die Sünde, daß ich einem Chri- stenmenschen so etwas nachsagen muß — selber solche heillose Bücher schreiben soll. Ist mir denn je schon so etwas vorgekommen, am hellen Festmorgen so heidnisch zu mustciren; — ich glaube gar, er tanzt auch dazu. Nun, der Herr sei seiner Seele gnädig und bewahre uns vor seiner Gesellschaft!" Auf solche und ähnliche Weise machte die Frau Actuarin, die — beiläufig gesagt — auch aus anderen Gründen eine specielle Malice auf Dr. Richard hatte, ihrem gepreßten Herzen Luft, und suchte ihr emportes Neligionsgefühl zu beschwichtigen. Auguste jedoch, ihre eben den Kindesjahren entwachsene Tochter, lauschte aufmerksam hinüber, und wandte ihre klugen, lebensfroher Augen nicht von dem geöffneten Nachbarsfenster weg. An dergleichen mütterliche Lectionen mochte sie wohl gewöhnt sein, denn sie bethätigte bald auf eine liebenswürdige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/309>, abgerufen am 29.03.2024.