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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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aber wir wissen nicht, ist's Sinnenlust oder Heiligenschein, oder Beides
zusammen; an der Einfassung stand mit kleinen, ""sichern Zügen ge¬
schrieben : Friederike. -- Auf dem Arbeitstische liegt ein aufgeschlage¬
nes Buch, es führt den Titel: "Matthisson'ö Gedichte, herausgegeben
von Johann Heinrich Füßli." --


VII.

Am Abendhimmel hing ein Gewitter, groß und ernst, wie ein
mahnender Völkergedanke; auf dem Reichenauer Thale lag noch Heller,
bunter Sonnenschein, und in diesem Sonnenscheine wandelte Richard
und Marie, die sich an seinen Arm schmiegte und von Zeit zu Zeit
ihre Blicke zu seinen beredten Zügen ausschlug. Er erzählte ihr von
der bösen Welt, wie sich da die Leute haßten und verfolgten, wie da
die Leidenschaften das Menschenleben aufwühlten zu großen, himmel¬
stürmenden Wogen, welche unaufhaltsam weiter und weiter drängen
und der Liebe nicht achteten, die sie mit ihren schäumenden, kalten
Fluthen überschütteten, und des armen, gebrechlichen Menschenherzens
nicht, das sie zertrümmerten. Dann erzählte er ihr ein süßes Mährlein
von einer Zeit, wo er noch jung gewesen, und an dem Busen seiner
Eltern geruht, und alle Menschen geliebt und all' seine Liebe, all' sein
Glück, all' seinen Frieden einer bezaubernden Prinzessin zu Füßen ge¬
legt, und daß jetzt erst das wundersame Leben recht begonnen habe.
"Das war eine schöne Zeit, meine Marie, und es ist nur Schade, daß
eine lange Ewigkeit dazwischen liegt, eine schöne Zeit -- die Blumen
haben ausgeblüht, und die glänzenden Thautröpfchen, welche sich in
ihren Kelchen wiegen, sind nicht mehr liebe Augen, die mir mit Un¬
schuld und Sehnsucht entgegenschauen, sondern schwere Thränen, als
hätte ich sie selbst geweint, um alle Farbenpracht zu erlöschen. Und
auch später, als man mir so systematisch eine Hoffnung, eine Neigung
nach der andern aus der Brust riß, habe ich mich durch die bloße
Erinnerung an diese Zeit immer wieder von neuem belebt und gestärkt;
endlich jedoch, endlich, Marie, traf man mich tief und tödtlich in das
innerste Herz, und von da an erlosch sogar die Erinnerung. So sprach
er noch Vieles, und wurde immer erregter und begeisterter. Er vergaß,
daß es Marie war, die Tochter des würdigen Seelsorgers von Rei¬
cheren", der er das, was er Jahre lang so tief und geheim in dem
Innersten seiner Seele gehegt und vor den Augen der Außenwelt wie
eine zarte, unter glücklicheren Himmel geborene Blume vor den ver¬
nichtenden Winterstürmen des rauhen Nordens, gehütet hatte, -- jetzt


Wrenztotin, II. 1840. 39

aber wir wissen nicht, ist's Sinnenlust oder Heiligenschein, oder Beides
zusammen; an der Einfassung stand mit kleinen, «»sichern Zügen ge¬
schrieben : Friederike. — Auf dem Arbeitstische liegt ein aufgeschlage¬
nes Buch, es führt den Titel: „Matthisson'ö Gedichte, herausgegeben
von Johann Heinrich Füßli." —


VII.

Am Abendhimmel hing ein Gewitter, groß und ernst, wie ein
mahnender Völkergedanke; auf dem Reichenauer Thale lag noch Heller,
bunter Sonnenschein, und in diesem Sonnenscheine wandelte Richard
und Marie, die sich an seinen Arm schmiegte und von Zeit zu Zeit
ihre Blicke zu seinen beredten Zügen ausschlug. Er erzählte ihr von
der bösen Welt, wie sich da die Leute haßten und verfolgten, wie da
die Leidenschaften das Menschenleben aufwühlten zu großen, himmel¬
stürmenden Wogen, welche unaufhaltsam weiter und weiter drängen
und der Liebe nicht achteten, die sie mit ihren schäumenden, kalten
Fluthen überschütteten, und des armen, gebrechlichen Menschenherzens
nicht, das sie zertrümmerten. Dann erzählte er ihr ein süßes Mährlein
von einer Zeit, wo er noch jung gewesen, und an dem Busen seiner
Eltern geruht, und alle Menschen geliebt und all' seine Liebe, all' sein
Glück, all' seinen Frieden einer bezaubernden Prinzessin zu Füßen ge¬
legt, und daß jetzt erst das wundersame Leben recht begonnen habe.
„Das war eine schöne Zeit, meine Marie, und es ist nur Schade, daß
eine lange Ewigkeit dazwischen liegt, eine schöne Zeit — die Blumen
haben ausgeblüht, und die glänzenden Thautröpfchen, welche sich in
ihren Kelchen wiegen, sind nicht mehr liebe Augen, die mir mit Un¬
schuld und Sehnsucht entgegenschauen, sondern schwere Thränen, als
hätte ich sie selbst geweint, um alle Farbenpracht zu erlöschen. Und
auch später, als man mir so systematisch eine Hoffnung, eine Neigung
nach der andern aus der Brust riß, habe ich mich durch die bloße
Erinnerung an diese Zeit immer wieder von neuem belebt und gestärkt;
endlich jedoch, endlich, Marie, traf man mich tief und tödtlich in das
innerste Herz, und von da an erlosch sogar die Erinnerung. So sprach
er noch Vieles, und wurde immer erregter und begeisterter. Er vergaß,
daß es Marie war, die Tochter des würdigen Seelsorgers von Rei¬
cheren», der er das, was er Jahre lang so tief und geheim in dem
Innersten seiner Seele gehegt und vor den Augen der Außenwelt wie
eine zarte, unter glücklicheren Himmel geborene Blume vor den ver¬
nichtenden Winterstürmen des rauhen Nordens, gehütet hatte, — jetzt


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[0313] aber wir wissen nicht, ist's Sinnenlust oder Heiligenschein, oder Beides zusammen; an der Einfassung stand mit kleinen, «»sichern Zügen ge¬ schrieben : Friederike. — Auf dem Arbeitstische liegt ein aufgeschlage¬ nes Buch, es führt den Titel: „Matthisson'ö Gedichte, herausgegeben von Johann Heinrich Füßli." — VII. Am Abendhimmel hing ein Gewitter, groß und ernst, wie ein mahnender Völkergedanke; auf dem Reichenauer Thale lag noch Heller, bunter Sonnenschein, und in diesem Sonnenscheine wandelte Richard und Marie, die sich an seinen Arm schmiegte und von Zeit zu Zeit ihre Blicke zu seinen beredten Zügen ausschlug. Er erzählte ihr von der bösen Welt, wie sich da die Leute haßten und verfolgten, wie da die Leidenschaften das Menschenleben aufwühlten zu großen, himmel¬ stürmenden Wogen, welche unaufhaltsam weiter und weiter drängen und der Liebe nicht achteten, die sie mit ihren schäumenden, kalten Fluthen überschütteten, und des armen, gebrechlichen Menschenherzens nicht, das sie zertrümmerten. Dann erzählte er ihr ein süßes Mährlein von einer Zeit, wo er noch jung gewesen, und an dem Busen seiner Eltern geruht, und alle Menschen geliebt und all' seine Liebe, all' sein Glück, all' seinen Frieden einer bezaubernden Prinzessin zu Füßen ge¬ legt, und daß jetzt erst das wundersame Leben recht begonnen habe. „Das war eine schöne Zeit, meine Marie, und es ist nur Schade, daß eine lange Ewigkeit dazwischen liegt, eine schöne Zeit — die Blumen haben ausgeblüht, und die glänzenden Thautröpfchen, welche sich in ihren Kelchen wiegen, sind nicht mehr liebe Augen, die mir mit Un¬ schuld und Sehnsucht entgegenschauen, sondern schwere Thränen, als hätte ich sie selbst geweint, um alle Farbenpracht zu erlöschen. Und auch später, als man mir so systematisch eine Hoffnung, eine Neigung nach der andern aus der Brust riß, habe ich mich durch die bloße Erinnerung an diese Zeit immer wieder von neuem belebt und gestärkt; endlich jedoch, endlich, Marie, traf man mich tief und tödtlich in das innerste Herz, und von da an erlosch sogar die Erinnerung. So sprach er noch Vieles, und wurde immer erregter und begeisterter. Er vergaß, daß es Marie war, die Tochter des würdigen Seelsorgers von Rei¬ cheren», der er das, was er Jahre lang so tief und geheim in dem Innersten seiner Seele gehegt und vor den Augen der Außenwelt wie eine zarte, unter glücklicheren Himmel geborene Blume vor den ver¬ nichtenden Winterstürmen des rauhen Nordens, gehütet hatte, — jetzt Wrenztotin, II. 1840. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/313>, abgerufen am 23.04.2024.