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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Sociale Skizzen ans Paris.



i.

Sollte man nicht meinen, daß unsere Enkel einst vor unserer
Unsittlichkeit und unserem Elend zurückschaudern werden, wenn sie die
schrecklichen Schilderungen zu Gesicht bekommen, die man uns von
unserm die Ehre und das Vermögen der Familien untergrabenden
Börsenspiel macht, wenn sie lesen, daß von 30,000 Geburten in Pa¬
ris im Jahre 1845 10,000 uneheliche waren, daß bei 30,000 Todes¬
fällen in der Hauptstadt 11,150 Individuen im Hospital starben und
daß auf 23 Einwohner ein Dürftiger kommt, der im Wohlthätigkeits-
Bürcau eingeschrieben ist? Gewiß, das sind furchtbare Zahlen, und
"Zahlen frappiren," Aber man betrachtet diese Zahlen nur oberfläch¬
lich; man sollte doch sich von der wahren Bedeutung derselben Rechen¬
schaft geben und die Schlüsse, die daraus gezogen werden, auf ein
vernünftiges Maß zurückführen. Man würde dann finden, daß un¬
sere Zeit noch nicht so häßlich ist, als sie beim ersten Anblick scheint.
Allerdings sind wir noch weit, sehr weit von der Vollkommenheit ent¬
fernt; allerdings nagen furchtbare Krankheiten an den Eingeweiden der
Gesellschaft, aber wer kann leugnen, daß jetzt für die Heilung dersel¬
ben mehr als je geschieht, und daß jeder Tag seinen Fortschritt, sei
er auch noch so klein, mit sich bringt? Sind nicht jene entmuthigen-
den statistischen Zahlen selbst ein ungeheurer Fortschritt? Indem sie
auf das Uebel hinzeigen, weisen sie auch auf das Mittel hin, oder
zwingen wenigstens zur Aufsuchung desselben. Auch darf man nich
vergessen, daß die Noch in unserer Zeit hauptsächlich deswegen so groß
erscheint, weil man sich früher nie so viel mit ihr beschäftigt, die Ar-


Grmzbot-n, 1S4". U. 47
Sociale Skizzen ans Paris.



i.

Sollte man nicht meinen, daß unsere Enkel einst vor unserer
Unsittlichkeit und unserem Elend zurückschaudern werden, wenn sie die
schrecklichen Schilderungen zu Gesicht bekommen, die man uns von
unserm die Ehre und das Vermögen der Familien untergrabenden
Börsenspiel macht, wenn sie lesen, daß von 30,000 Geburten in Pa¬
ris im Jahre 1845 10,000 uneheliche waren, daß bei 30,000 Todes¬
fällen in der Hauptstadt 11,150 Individuen im Hospital starben und
daß auf 23 Einwohner ein Dürftiger kommt, der im Wohlthätigkeits-
Bürcau eingeschrieben ist? Gewiß, das sind furchtbare Zahlen, und
„Zahlen frappiren," Aber man betrachtet diese Zahlen nur oberfläch¬
lich; man sollte doch sich von der wahren Bedeutung derselben Rechen¬
schaft geben und die Schlüsse, die daraus gezogen werden, auf ein
vernünftiges Maß zurückführen. Man würde dann finden, daß un¬
sere Zeit noch nicht so häßlich ist, als sie beim ersten Anblick scheint.
Allerdings sind wir noch weit, sehr weit von der Vollkommenheit ent¬
fernt; allerdings nagen furchtbare Krankheiten an den Eingeweiden der
Gesellschaft, aber wer kann leugnen, daß jetzt für die Heilung dersel¬
ben mehr als je geschieht, und daß jeder Tag seinen Fortschritt, sei
er auch noch so klein, mit sich bringt? Sind nicht jene entmuthigen-
den statistischen Zahlen selbst ein ungeheurer Fortschritt? Indem sie
auf das Uebel hinzeigen, weisen sie auch auf das Mittel hin, oder
zwingen wenigstens zur Aufsuchung desselben. Auch darf man nich
vergessen, daß die Noch in unserer Zeit hauptsächlich deswegen so groß
erscheint, weil man sich früher nie so viel mit ihr beschäftigt, die Ar-


Grmzbot-n, 1S4«. U. 47
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[0377] Sociale Skizzen ans Paris. i. Sollte man nicht meinen, daß unsere Enkel einst vor unserer Unsittlichkeit und unserem Elend zurückschaudern werden, wenn sie die schrecklichen Schilderungen zu Gesicht bekommen, die man uns von unserm die Ehre und das Vermögen der Familien untergrabenden Börsenspiel macht, wenn sie lesen, daß von 30,000 Geburten in Pa¬ ris im Jahre 1845 10,000 uneheliche waren, daß bei 30,000 Todes¬ fällen in der Hauptstadt 11,150 Individuen im Hospital starben und daß auf 23 Einwohner ein Dürftiger kommt, der im Wohlthätigkeits- Bürcau eingeschrieben ist? Gewiß, das sind furchtbare Zahlen, und „Zahlen frappiren," Aber man betrachtet diese Zahlen nur oberfläch¬ lich; man sollte doch sich von der wahren Bedeutung derselben Rechen¬ schaft geben und die Schlüsse, die daraus gezogen werden, auf ein vernünftiges Maß zurückführen. Man würde dann finden, daß un¬ sere Zeit noch nicht so häßlich ist, als sie beim ersten Anblick scheint. Allerdings sind wir noch weit, sehr weit von der Vollkommenheit ent¬ fernt; allerdings nagen furchtbare Krankheiten an den Eingeweiden der Gesellschaft, aber wer kann leugnen, daß jetzt für die Heilung dersel¬ ben mehr als je geschieht, und daß jeder Tag seinen Fortschritt, sei er auch noch so klein, mit sich bringt? Sind nicht jene entmuthigen- den statistischen Zahlen selbst ein ungeheurer Fortschritt? Indem sie auf das Uebel hinzeigen, weisen sie auch auf das Mittel hin, oder zwingen wenigstens zur Aufsuchung desselben. Auch darf man nich vergessen, daß die Noch in unserer Zeit hauptsächlich deswegen so groß erscheint, weil man sich früher nie so viel mit ihr beschäftigt, die Ar- Grmzbot-n, 1S4«. U. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/377>, abgerufen am 23.04.2024.