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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Lyrisches Hintertreffen.



Da hat sich auf meinem Schreibtische ein kleiner Stoß lyrischer
Ergüsse angesammelt, der schon lange um ein Urtheil bittet. Es liegen
friedlich neben einander die Gedichte einer adligen Dame ans Oester¬
reich und eines Drechslermeisters aus Straßburg, daneben und da¬
zwischen manches andere Bunte. Alle die grünen, gelben, weißen
Bändchen auf Velinpapier scheinen sehr bescheidene Ansprüche zu ma¬
chen und man thäte ihnen wohl gar ein Unrecht an, wenn man den
kritischen Maßstab, welchen die Lyrik unserer Tage fordert, auch an
diese kleinen Sänger und Schwätzer anlegen wollte. Aber sie drängen
sich selber herauf sie möchten alle gern besonders hervortauchen, sie
fordern ein Urtheil heraus: wolandenn es ollinen werden.

,
Für einen sehr großen Theil unserer deutschen, sogenannten Ly¬
riker eristirt gar keine Entwickelung, weder eine ästhetische, noch eine
politische, sociale, sie singen und zwitschern blos, wie ihnen der Schnabel
gewachsen ist. Für sie gibt es auch eigentlich gar keine Lyrik, sie
haben blos lyrische, nicht poetisch-, sondern privat-individuelle Momente
und lassen die alten Reminiscenzen von der Wehmuth, von dem treuen
Herzen, von dem Heimweh, von der Seligkeit der Liebe, von den
Schauern des Grabes u. s. w. u. s. w., immer wieder frisch weg, wie
etwas Originales drucken. Für diese harmlosen Geschöpfe hat unser
Vaterland gar keine großartige lyrische Literatur von Günther an bis
auf Goethe und drüber hinaus, obgleich sie immer wieder den äußern
Abhub dieser Literatur unermüdet in Prosa setzen. Sie sind ganz iso-
ltrt vom Leben, von allgemeiner Entwickelung. Sie sind so ganz und
gar gutmüthige, echt deutsche Seelen. Daß aber bei dieser Lyrik nichts
herauskommt, das ist klar, sie ist ein durchweg verlorener Posten, so-


"renzioten, II. 4g
Lyrisches Hintertreffen.



Da hat sich auf meinem Schreibtische ein kleiner Stoß lyrischer
Ergüsse angesammelt, der schon lange um ein Urtheil bittet. Es liegen
friedlich neben einander die Gedichte einer adligen Dame ans Oester¬
reich und eines Drechslermeisters aus Straßburg, daneben und da¬
zwischen manches andere Bunte. Alle die grünen, gelben, weißen
Bändchen auf Velinpapier scheinen sehr bescheidene Ansprüche zu ma¬
chen und man thäte ihnen wohl gar ein Unrecht an, wenn man den
kritischen Maßstab, welchen die Lyrik unserer Tage fordert, auch an
diese kleinen Sänger und Schwätzer anlegen wollte. Aber sie drängen
sich selber herauf sie möchten alle gern besonders hervortauchen, sie
fordern ein Urtheil heraus: wolandenn es ollinen werden.

,
Für einen sehr großen Theil unserer deutschen, sogenannten Ly¬
riker eristirt gar keine Entwickelung, weder eine ästhetische, noch eine
politische, sociale, sie singen und zwitschern blos, wie ihnen der Schnabel
gewachsen ist. Für sie gibt es auch eigentlich gar keine Lyrik, sie
haben blos lyrische, nicht poetisch-, sondern privat-individuelle Momente
und lassen die alten Reminiscenzen von der Wehmuth, von dem treuen
Herzen, von dem Heimweh, von der Seligkeit der Liebe, von den
Schauern des Grabes u. s. w. u. s. w., immer wieder frisch weg, wie
etwas Originales drucken. Für diese harmlosen Geschöpfe hat unser
Vaterland gar keine großartige lyrische Literatur von Günther an bis
auf Goethe und drüber hinaus, obgleich sie immer wieder den äußern
Abhub dieser Literatur unermüdet in Prosa setzen. Sie sind ganz iso-
ltrt vom Leben, von allgemeiner Entwickelung. Sie sind so ganz und
gar gutmüthige, echt deutsche Seelen. Daß aber bei dieser Lyrik nichts
herauskommt, das ist klar, sie ist ein durchweg verlorener Posten, so-


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[0385] Lyrisches Hintertreffen. Da hat sich auf meinem Schreibtische ein kleiner Stoß lyrischer Ergüsse angesammelt, der schon lange um ein Urtheil bittet. Es liegen friedlich neben einander die Gedichte einer adligen Dame ans Oester¬ reich und eines Drechslermeisters aus Straßburg, daneben und da¬ zwischen manches andere Bunte. Alle die grünen, gelben, weißen Bändchen auf Velinpapier scheinen sehr bescheidene Ansprüche zu ma¬ chen und man thäte ihnen wohl gar ein Unrecht an, wenn man den kritischen Maßstab, welchen die Lyrik unserer Tage fordert, auch an diese kleinen Sänger und Schwätzer anlegen wollte. Aber sie drängen sich selber herauf sie möchten alle gern besonders hervortauchen, sie fordern ein Urtheil heraus: wolandenn es ollinen werden. , Für einen sehr großen Theil unserer deutschen, sogenannten Ly¬ riker eristirt gar keine Entwickelung, weder eine ästhetische, noch eine politische, sociale, sie singen und zwitschern blos, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Für sie gibt es auch eigentlich gar keine Lyrik, sie haben blos lyrische, nicht poetisch-, sondern privat-individuelle Momente und lassen die alten Reminiscenzen von der Wehmuth, von dem treuen Herzen, von dem Heimweh, von der Seligkeit der Liebe, von den Schauern des Grabes u. s. w. u. s. w., immer wieder frisch weg, wie etwas Originales drucken. Für diese harmlosen Geschöpfe hat unser Vaterland gar keine großartige lyrische Literatur von Günther an bis auf Goethe und drüber hinaus, obgleich sie immer wieder den äußern Abhub dieser Literatur unermüdet in Prosa setzen. Sie sind ganz iso- ltrt vom Leben, von allgemeiner Entwickelung. Sie sind so ganz und gar gutmüthige, echt deutsche Seelen. Daß aber bei dieser Lyrik nichts herauskommt, das ist klar, sie ist ein durchweg verlorener Posten, so- «renzioten, II. 4g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/385>, abgerufen am 25.04.2024.