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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Aus Berlin.

. Kunst und Aristokratie. -- Gräßliche Polka'6. -- Eine tunke Frage. -- Der
evangelische Bücherverein. -- Diesterweg.

Nicht nur die Geldaristokratie legt sich jetzt auf die Kunst, sondern
auch die höchste Geburtsaristokratie versucht es, auf diesem Terrain Lor¬
beeren zu finden, da der Mangel an europäischen Schlachtfeldern immer
fühlbarer wird.

Die Zeitungen berichten vom ZI. Mai aus dem Haag: "Hier
ist eine neue Oper: "Der Sclave des CamoLs" (also der Text wahr¬
scheinlich aus L. Tiecks berühmter Novelle: "Der Tod des Dichters")
componirt von Sr. königl. Hoheit dem Prinzen von Oranien zur
Aufführung gelangt. Ueber das unvermeidliche Furore dieser Production
wird bescheidener Weise nichts vermeldet.

Vor ein paar Jahren wurde eine solche Durchlauchtsopcr: "Die
Geisterbraut" in Breslau, und vor Kurzem eine neue: "Zaire" in
Coburg aufgeführt; wegen letzterer sind Abgeordnete nach Berlin ge¬
sandt, um eine Aufführung im Opernhause zu vermitteln, die natürlich
zu Stande kommen dürfte. Die kritischen Berliner pflegen indeß bei
solchen Gelegenheiten womöglich noch kritischer zu sein, wie gewöhnlich,

Es ist nicht zu leugnen, daß der berliner Witz oft etwas Gräßliches
an sich hat, so hörten wir neulich mit Entsetzen, Angesichts der neuen
Kirche im Thiergarten, die den Namen des Evangelisten Matthäus und
einen vergoldeten Hahn auf der Thurmspitze trägt, von elegant gekleide¬
ten, offenbar den höhern Ständen angehörenden Spaziergängern, dieses
Gotteshaus nickt Matthäus- sondern "Polkakirche" nennen. Fast noch
gräßlicher, wenigstens einschneidender ist's aber, den leider förmlich
Mode werdenden Selbstmord, der die Eisenbahn als Guillotine benutzt:
den "Polkatod" zu nennen. Seit dem Monat März d. I. sind be¬
reits sechs dieser entsetzlichen Todesfälle vorgekommen, größtentheils auf
der Potsdamer Eisenbahn, und fast immer waren es Unglückliche, die
kaum das zwanzigste Lebensjahr erreicht. Da die Opfer zumeist
junge Mädchen aus der dienenden Klasse gewesen sind, so ist man hier
und da geneigt, anzunehmen, sie könnten in einer Weise verführt worden
sein, die ihnen eine schleunige Verheirathung nothwendig erscheinen ließ.

Bei der großen Anzahl von jungem Militär, und der noch größern
unverheiratheten jungen Leute aus der arbeitenden Klasse, wird die Frage
laut, ob es auch wirklich so nothwendig und so zweckmäßig gewesen sei, in


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. Kunst und Aristokratie. — Gräßliche Polka'6. — Eine tunke Frage. — Der
evangelische Bücherverein. — Diesterweg.

Nicht nur die Geldaristokratie legt sich jetzt auf die Kunst, sondern
auch die höchste Geburtsaristokratie versucht es, auf diesem Terrain Lor¬
beeren zu finden, da der Mangel an europäischen Schlachtfeldern immer
fühlbarer wird.

Die Zeitungen berichten vom ZI. Mai aus dem Haag: „Hier
ist eine neue Oper: „Der Sclave des CamoLs" (also der Text wahr¬
scheinlich aus L. Tiecks berühmter Novelle: „Der Tod des Dichters")
componirt von Sr. königl. Hoheit dem Prinzen von Oranien zur
Aufführung gelangt. Ueber das unvermeidliche Furore dieser Production
wird bescheidener Weise nichts vermeldet.

Vor ein paar Jahren wurde eine solche Durchlauchtsopcr: „Die
Geisterbraut" in Breslau, und vor Kurzem eine neue: „Zaire" in
Coburg aufgeführt; wegen letzterer sind Abgeordnete nach Berlin ge¬
sandt, um eine Aufführung im Opernhause zu vermitteln, die natürlich
zu Stande kommen dürfte. Die kritischen Berliner pflegen indeß bei
solchen Gelegenheiten womöglich noch kritischer zu sein, wie gewöhnlich,

Es ist nicht zu leugnen, daß der berliner Witz oft etwas Gräßliches
an sich hat, so hörten wir neulich mit Entsetzen, Angesichts der neuen
Kirche im Thiergarten, die den Namen des Evangelisten Matthäus und
einen vergoldeten Hahn auf der Thurmspitze trägt, von elegant gekleide¬
ten, offenbar den höhern Ständen angehörenden Spaziergängern, dieses
Gotteshaus nickt Matthäus- sondern „Polkakirche" nennen. Fast noch
gräßlicher, wenigstens einschneidender ist's aber, den leider förmlich
Mode werdenden Selbstmord, der die Eisenbahn als Guillotine benutzt:
den „Polkatod" zu nennen. Seit dem Monat März d. I. sind be¬
reits sechs dieser entsetzlichen Todesfälle vorgekommen, größtentheils auf
der Potsdamer Eisenbahn, und fast immer waren es Unglückliche, die
kaum das zwanzigste Lebensjahr erreicht. Da die Opfer zumeist
junge Mädchen aus der dienenden Klasse gewesen sind, so ist man hier
und da geneigt, anzunehmen, sie könnten in einer Weise verführt worden
sein, die ihnen eine schleunige Verheirathung nothwendig erscheinen ließ.

Bei der großen Anzahl von jungem Militär, und der noch größern
unverheiratheten jungen Leute aus der arbeitenden Klasse, wird die Frage
laut, ob es auch wirklich so nothwendig und so zweckmäßig gewesen sei, in


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[0452] T et g e b u es. ? Aus Berlin. . Kunst und Aristokratie. — Gräßliche Polka'6. — Eine tunke Frage. — Der evangelische Bücherverein. — Diesterweg. Nicht nur die Geldaristokratie legt sich jetzt auf die Kunst, sondern auch die höchste Geburtsaristokratie versucht es, auf diesem Terrain Lor¬ beeren zu finden, da der Mangel an europäischen Schlachtfeldern immer fühlbarer wird. Die Zeitungen berichten vom ZI. Mai aus dem Haag: „Hier ist eine neue Oper: „Der Sclave des CamoLs" (also der Text wahr¬ scheinlich aus L. Tiecks berühmter Novelle: „Der Tod des Dichters") componirt von Sr. königl. Hoheit dem Prinzen von Oranien zur Aufführung gelangt. Ueber das unvermeidliche Furore dieser Production wird bescheidener Weise nichts vermeldet. Vor ein paar Jahren wurde eine solche Durchlauchtsopcr: „Die Geisterbraut" in Breslau, und vor Kurzem eine neue: „Zaire" in Coburg aufgeführt; wegen letzterer sind Abgeordnete nach Berlin ge¬ sandt, um eine Aufführung im Opernhause zu vermitteln, die natürlich zu Stande kommen dürfte. Die kritischen Berliner pflegen indeß bei solchen Gelegenheiten womöglich noch kritischer zu sein, wie gewöhnlich, Es ist nicht zu leugnen, daß der berliner Witz oft etwas Gräßliches an sich hat, so hörten wir neulich mit Entsetzen, Angesichts der neuen Kirche im Thiergarten, die den Namen des Evangelisten Matthäus und einen vergoldeten Hahn auf der Thurmspitze trägt, von elegant gekleide¬ ten, offenbar den höhern Ständen angehörenden Spaziergängern, dieses Gotteshaus nickt Matthäus- sondern „Polkakirche" nennen. Fast noch gräßlicher, wenigstens einschneidender ist's aber, den leider förmlich Mode werdenden Selbstmord, der die Eisenbahn als Guillotine benutzt: den „Polkatod" zu nennen. Seit dem Monat März d. I. sind be¬ reits sechs dieser entsetzlichen Todesfälle vorgekommen, größtentheils auf der Potsdamer Eisenbahn, und fast immer waren es Unglückliche, die kaum das zwanzigste Lebensjahr erreicht. Da die Opfer zumeist junge Mädchen aus der dienenden Klasse gewesen sind, so ist man hier und da geneigt, anzunehmen, sie könnten in einer Weise verführt worden sein, die ihnen eine schleunige Verheirathung nothwendig erscheinen ließ. Bei der großen Anzahl von jungem Militär, und der noch größern unverheiratheten jungen Leute aus der arbeitenden Klasse, wird die Frage laut, ob es auch wirklich so nothwendig und so zweckmäßig gewesen sei, in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/452>, abgerufen am 25.04.2024.