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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Moderne Historiker"

Immer strebe zum Ganzen, und wirst du selber kein Ganze"
Werden, als dienendes Glied schließ' an ein Ganzes dich an.

Goethe.

Wir eröffnen hiermit eine Reihe von Charakteristiken, deren Zweck ein
doppelter ist: die Resultate der modernen Geschichtschreibniig zu verbreiten und
zu pöpularifiren, und voll der wissenschaftlichen Tendenz der neuen Zeit, so
weit sie sich in der Historie spiegelt, einen Umriß zu geben. Denn diese
steht nicht isolirt: an der Philosophie, der Politik und den ästhetischen
Auffassungen der Zeit hat sie ihre Factoren. Das Thatsächliche zu einem gei¬
stigen Bilde umzudichten vermag mir, wer des Gedankens der Zeit sich
bemächtigt hat.

Die moderne Geschichtschreibung geht von zwei entgegengesetzten Ten¬
denzen ans, die aber am Ziel in einanderlanfen. Voltaire war es, der
ihr zuerst die Richtung gab, eine Schule der Gegenwart zu werden lind zu
diesem Zweck in dem Chaos des Geschehenen überall deu Gesichtspunkt fest¬
zuhalten: in wie weit trug alles dieses zu dem einzigen bei, was Noth
thut, zur Aufklärung und Befreiung der Menschheit? Die philosophische Bil¬
dung der Deutschen hat diese befähigt, mit tieferem Sinn und weiterer
Humanität dieselbe Tendenz zu verfolgen; Herder zeigte, daß der Gedanke
der Menschheit nicht ein außergeschichtlicher sei, ein Ideelles, das sich we-
sentlich nur in der Auflösung des Empirischen zeigen dürfe, sondern daß
man ihn innerhalb des. Geschichtlichen selbst zu verfolgen habe, daß in den
Metamorphosen der Menschheit, auch in ihren dunkelsten und unklarsten
Regungen, dieses göttliche Bild der Idee sich wiederfludeir müsse. Hegel be¬
lebte diese, zunächst um ästhetische Anschauung, durch die Kraft des Gedankens.

Die andere Richtung, für die ich hier mir Justus Möser anführen will,
vertiefte sich im Gegentheil in das Detail; sie zeigte, wie man in den ge¬
heimsten Tiefen des sittlichen Bewußtseins einer bestimmten Zeit nachgeben
müsse, um dieselbe in Verhältniß zu der allgemeinen Entwickelung des Mer
schengeschlechts zu setzen: wie die oberflächliche Zusammenstellung sogenannter


Grenzboten, ki. 1847. ^7
Moderne Historiker»

Immer strebe zum Ganzen, und wirst du selber kein Ganze«
Werden, als dienendes Glied schließ' an ein Ganzes dich an.

Goethe.

Wir eröffnen hiermit eine Reihe von Charakteristiken, deren Zweck ein
doppelter ist: die Resultate der modernen Geschichtschreibniig zu verbreiten und
zu pöpularifiren, und voll der wissenschaftlichen Tendenz der neuen Zeit, so
weit sie sich in der Historie spiegelt, einen Umriß zu geben. Denn diese
steht nicht isolirt: an der Philosophie, der Politik und den ästhetischen
Auffassungen der Zeit hat sie ihre Factoren. Das Thatsächliche zu einem gei¬
stigen Bilde umzudichten vermag mir, wer des Gedankens der Zeit sich
bemächtigt hat.

Die moderne Geschichtschreibung geht von zwei entgegengesetzten Ten¬
denzen ans, die aber am Ziel in einanderlanfen. Voltaire war es, der
ihr zuerst die Richtung gab, eine Schule der Gegenwart zu werden lind zu
diesem Zweck in dem Chaos des Geschehenen überall deu Gesichtspunkt fest¬
zuhalten: in wie weit trug alles dieses zu dem einzigen bei, was Noth
thut, zur Aufklärung und Befreiung der Menschheit? Die philosophische Bil¬
dung der Deutschen hat diese befähigt, mit tieferem Sinn und weiterer
Humanität dieselbe Tendenz zu verfolgen; Herder zeigte, daß der Gedanke
der Menschheit nicht ein außergeschichtlicher sei, ein Ideelles, das sich we-
sentlich nur in der Auflösung des Empirischen zeigen dürfe, sondern daß
man ihn innerhalb des. Geschichtlichen selbst zu verfolgen habe, daß in den
Metamorphosen der Menschheit, auch in ihren dunkelsten und unklarsten
Regungen, dieses göttliche Bild der Idee sich wiederfludeir müsse. Hegel be¬
lebte diese, zunächst um ästhetische Anschauung, durch die Kraft des Gedankens.

Die andere Richtung, für die ich hier mir Justus Möser anführen will,
vertiefte sich im Gegentheil in das Detail; sie zeigte, wie man in den ge¬
heimsten Tiefen des sittlichen Bewußtseins einer bestimmten Zeit nachgeben
müsse, um dieselbe in Verhältniß zu der allgemeinen Entwickelung des Mer
schengeschlechts zu setzen: wie die oberflächliche Zusammenstellung sogenannter


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[0285] Moderne Historiker» Immer strebe zum Ganzen, und wirst du selber kein Ganze« Werden, als dienendes Glied schließ' an ein Ganzes dich an. Goethe. Wir eröffnen hiermit eine Reihe von Charakteristiken, deren Zweck ein doppelter ist: die Resultate der modernen Geschichtschreibniig zu verbreiten und zu pöpularifiren, und voll der wissenschaftlichen Tendenz der neuen Zeit, so weit sie sich in der Historie spiegelt, einen Umriß zu geben. Denn diese steht nicht isolirt: an der Philosophie, der Politik und den ästhetischen Auffassungen der Zeit hat sie ihre Factoren. Das Thatsächliche zu einem gei¬ stigen Bilde umzudichten vermag mir, wer des Gedankens der Zeit sich bemächtigt hat. Die moderne Geschichtschreibung geht von zwei entgegengesetzten Ten¬ denzen ans, die aber am Ziel in einanderlanfen. Voltaire war es, der ihr zuerst die Richtung gab, eine Schule der Gegenwart zu werden lind zu diesem Zweck in dem Chaos des Geschehenen überall deu Gesichtspunkt fest¬ zuhalten: in wie weit trug alles dieses zu dem einzigen bei, was Noth thut, zur Aufklärung und Befreiung der Menschheit? Die philosophische Bil¬ dung der Deutschen hat diese befähigt, mit tieferem Sinn und weiterer Humanität dieselbe Tendenz zu verfolgen; Herder zeigte, daß der Gedanke der Menschheit nicht ein außergeschichtlicher sei, ein Ideelles, das sich we- sentlich nur in der Auflösung des Empirischen zeigen dürfe, sondern daß man ihn innerhalb des. Geschichtlichen selbst zu verfolgen habe, daß in den Metamorphosen der Menschheit, auch in ihren dunkelsten und unklarsten Regungen, dieses göttliche Bild der Idee sich wiederfludeir müsse. Hegel be¬ lebte diese, zunächst um ästhetische Anschauung, durch die Kraft des Gedankens. Die andere Richtung, für die ich hier mir Justus Möser anführen will, vertiefte sich im Gegentheil in das Detail; sie zeigte, wie man in den ge¬ heimsten Tiefen des sittlichen Bewußtseins einer bestimmten Zeit nachgeben müsse, um dieselbe in Verhältniß zu der allgemeinen Entwickelung des Mer schengeschlechts zu setzen: wie die oberflächliche Zusammenstellung sogenannter Grenzboten, ki. 1847. ^7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/285>, abgerufen am 05.05.2024.