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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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alle Grazie und allen Humor mitgenommen, der schone Kopf und die lebendigen
Augen sind noch immer da und es ist ein wahres Labsal, das Fach älterer
Frauen wieder ein Mal zu Ehren gebracht zu sehen, nachdem uns unsere einhei-
mische Kunst (?) durch Widerlichkeit und Vcrzerrtheit das sogenannte Mntterfach
zur Mutter aller Qualen gemacht hat. Was die liebliche von allem Reiz sitt¬
licher Grazie umgebenen Louise Naumann betrifft, so ist uns neben dem herrlichen
Naturell zumeist die künstlerische Anordnung, die Ruhe in der Bewegung und
eine wunderbare Mischung von Gesetz und Freiheit in ihrem Spiel aufgefallen.
Da ist nichts von jener forcirten Effeethaschcrei, womit eine frühere berühmte
Darstellerin ihre verschwundene Jugend verdecken wollte, vielmehr durchzieht ein
so tiefer Hauch der Sittlichkeit, ein so inniger Zug von Weiblichkeit die heitere
Charakteristik der jungen Darstellerin, daß selbst in den komischsten Scenen nicht
blos die Lachmuskeln, sondern Gemüth und Herz angeregt werden.

Das Interesse an den öffentlichen Gerichtsverhandlungen hat dnrch die man¬
nigfachen bedeutenden Erlebnisse der letzten Zeit keineswegs abgenommenen; es
zeigt sich, dass der Sinn des Volkes keineswegs so .stumpf für ernsthafte
Dinge ist, als man gemeinhin anzunehmen geneigt war. Das humoristische Ge¬
wand, in dem der "Publizist" diese Geschichten auftischt, trägt allerdings wesentlich
dazu bei, die Theilnahme warm zu halten. Aber zu einem ordentlichen Ragout
gehört auch eine pikante Sauce.'

Der erste Band von RankeS Preußischer Geschichte ist erschienen, und wird
nicht verfehlen, die bekannten Thatsachen von einer neuen interessanten Seite zu
hauchten.


V.

Die Parlamentswahlen -- Polnischer Enthusiasmus. -- Russel und Rothschild. -- Die
Flüchtlinge aus der Hauptstadt. -- Irische Zustände. -- O'Connel's Schatten. -- Miß
Martineau. -- Die schwarzen Ränder d>r Times.

Das neue Parlament ist gewählt und die Liberalen haben den Sieg davon¬
getragen; das ist ein Vortheil, den Europa hoffentlich noch empfinden wird.
Ganz England war in den letzten Wochen in Bewegung. Es gab kein Alter,
keinen Stand, der nicht an dem Interesse des Tages Theil genommen hätte!
Jedes Persönliche wurde bei Seite gesetzt, als Nebensache, wo es die eine große
Nationalsrage galt: ob angebornes Recht ein Recht sei? Der Bewohner des
Continents, der sich seines persönlichen Rechts selten ganz bewußt worden ist, der
nur als Glied einer Kette sein Leben hinträumt, würde sich schwerlich eine Idee davon
machen können, wie groß und gewaltig zu solchen Zeiten das Nationalgefühl in
jeder Brust erwacht, und wie auch der kleinste Mann sich bedeutend fühlt in dem
Gedanken, daß er aus irgend eine Weise an der Entscheidung des Tages Theil
nehmen könne. "Wenn Sie mein Votum brauchen, komme ich die hundert Meilen


alle Grazie und allen Humor mitgenommen, der schone Kopf und die lebendigen
Augen sind noch immer da und es ist ein wahres Labsal, das Fach älterer
Frauen wieder ein Mal zu Ehren gebracht zu sehen, nachdem uns unsere einhei-
mische Kunst (?) durch Widerlichkeit und Vcrzerrtheit das sogenannte Mntterfach
zur Mutter aller Qualen gemacht hat. Was die liebliche von allem Reiz sitt¬
licher Grazie umgebenen Louise Naumann betrifft, so ist uns neben dem herrlichen
Naturell zumeist die künstlerische Anordnung, die Ruhe in der Bewegung und
eine wunderbare Mischung von Gesetz und Freiheit in ihrem Spiel aufgefallen.
Da ist nichts von jener forcirten Effeethaschcrei, womit eine frühere berühmte
Darstellerin ihre verschwundene Jugend verdecken wollte, vielmehr durchzieht ein
so tiefer Hauch der Sittlichkeit, ein so inniger Zug von Weiblichkeit die heitere
Charakteristik der jungen Darstellerin, daß selbst in den komischsten Scenen nicht
blos die Lachmuskeln, sondern Gemüth und Herz angeregt werden.

Das Interesse an den öffentlichen Gerichtsverhandlungen hat dnrch die man¬
nigfachen bedeutenden Erlebnisse der letzten Zeit keineswegs abgenommenen; es
zeigt sich, dass der Sinn des Volkes keineswegs so .stumpf für ernsthafte
Dinge ist, als man gemeinhin anzunehmen geneigt war. Das humoristische Ge¬
wand, in dem der „Publizist" diese Geschichten auftischt, trägt allerdings wesentlich
dazu bei, die Theilnahme warm zu halten. Aber zu einem ordentlichen Ragout
gehört auch eine pikante Sauce.'

Der erste Band von RankeS Preußischer Geschichte ist erschienen, und wird
nicht verfehlen, die bekannten Thatsachen von einer neuen interessanten Seite zu
hauchten.


V.

Die Parlamentswahlen — Polnischer Enthusiasmus. — Russel und Rothschild. — Die
Flüchtlinge aus der Hauptstadt. — Irische Zustände. — O'Connel's Schatten. — Miß
Martineau. — Die schwarzen Ränder d>r Times.

Das neue Parlament ist gewählt und die Liberalen haben den Sieg davon¬
getragen; das ist ein Vortheil, den Europa hoffentlich noch empfinden wird.
Ganz England war in den letzten Wochen in Bewegung. Es gab kein Alter,
keinen Stand, der nicht an dem Interesse des Tages Theil genommen hätte!
Jedes Persönliche wurde bei Seite gesetzt, als Nebensache, wo es die eine große
Nationalsrage galt: ob angebornes Recht ein Recht sei? Der Bewohner des
Continents, der sich seines persönlichen Rechts selten ganz bewußt worden ist, der
nur als Glied einer Kette sein Leben hinträumt, würde sich schwerlich eine Idee davon
machen können, wie groß und gewaltig zu solchen Zeiten das Nationalgefühl in
jeder Brust erwacht, und wie auch der kleinste Mann sich bedeutend fühlt in dem
Gedanken, daß er aus irgend eine Weise an der Entscheidung des Tages Theil
nehmen könne. „Wenn Sie mein Votum brauchen, komme ich die hundert Meilen


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[0271] alle Grazie und allen Humor mitgenommen, der schone Kopf und die lebendigen Augen sind noch immer da und es ist ein wahres Labsal, das Fach älterer Frauen wieder ein Mal zu Ehren gebracht zu sehen, nachdem uns unsere einhei- mische Kunst (?) durch Widerlichkeit und Vcrzerrtheit das sogenannte Mntterfach zur Mutter aller Qualen gemacht hat. Was die liebliche von allem Reiz sitt¬ licher Grazie umgebenen Louise Naumann betrifft, so ist uns neben dem herrlichen Naturell zumeist die künstlerische Anordnung, die Ruhe in der Bewegung und eine wunderbare Mischung von Gesetz und Freiheit in ihrem Spiel aufgefallen. Da ist nichts von jener forcirten Effeethaschcrei, womit eine frühere berühmte Darstellerin ihre verschwundene Jugend verdecken wollte, vielmehr durchzieht ein so tiefer Hauch der Sittlichkeit, ein so inniger Zug von Weiblichkeit die heitere Charakteristik der jungen Darstellerin, daß selbst in den komischsten Scenen nicht blos die Lachmuskeln, sondern Gemüth und Herz angeregt werden. Das Interesse an den öffentlichen Gerichtsverhandlungen hat dnrch die man¬ nigfachen bedeutenden Erlebnisse der letzten Zeit keineswegs abgenommenen; es zeigt sich, dass der Sinn des Volkes keineswegs so .stumpf für ernsthafte Dinge ist, als man gemeinhin anzunehmen geneigt war. Das humoristische Ge¬ wand, in dem der „Publizist" diese Geschichten auftischt, trägt allerdings wesentlich dazu bei, die Theilnahme warm zu halten. Aber zu einem ordentlichen Ragout gehört auch eine pikante Sauce.' Der erste Band von RankeS Preußischer Geschichte ist erschienen, und wird nicht verfehlen, die bekannten Thatsachen von einer neuen interessanten Seite zu hauchten. V. Die Parlamentswahlen — Polnischer Enthusiasmus. — Russel und Rothschild. — Die Flüchtlinge aus der Hauptstadt. — Irische Zustände. — O'Connel's Schatten. — Miß Martineau. — Die schwarzen Ränder d>r Times. Das neue Parlament ist gewählt und die Liberalen haben den Sieg davon¬ getragen; das ist ein Vortheil, den Europa hoffentlich noch empfinden wird. Ganz England war in den letzten Wochen in Bewegung. Es gab kein Alter, keinen Stand, der nicht an dem Interesse des Tages Theil genommen hätte! Jedes Persönliche wurde bei Seite gesetzt, als Nebensache, wo es die eine große Nationalsrage galt: ob angebornes Recht ein Recht sei? Der Bewohner des Continents, der sich seines persönlichen Rechts selten ganz bewußt worden ist, der nur als Glied einer Kette sein Leben hinträumt, würde sich schwerlich eine Idee davon machen können, wie groß und gewaltig zu solchen Zeiten das Nationalgefühl in jeder Brust erwacht, und wie auch der kleinste Mann sich bedeutend fühlt in dem Gedanken, daß er aus irgend eine Weise an der Entscheidung des Tages Theil nehmen könne. „Wenn Sie mein Votum brauchen, komme ich die hundert Meilen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/271>, abgerufen am 07.05.2024.