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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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VI.

Die Zuchtpolizci und das Feuilleton. -- Philosophie im Roman. -- Deutsche Empfindung in, Aus¬
land. -- Conflicte des Strafrechts. -- Die Theater-Zulendanz und die Demokraten. --
Politische Novitäten.

In früheren Zeiten haben die deutschen Romanschriftsteller ihre schlechten
Machwerke immer damit entschuldigt, daß ihnen der Markt des Lebens nicht so
geöffnet sei, wie den Londoner und Pariser Feuilletonisten. Diese Ausrede wird
wenigstens für Berlin nicht lange mehr stichhaltig sei", denn die Oeffentlichkeit
der Gerichtsverhandlungen eröffnet uns Blicke in die Mysterien des Lebens, wie
sie nur des Griffels eines Eugene Sue oder Eh. Dickens bedürfen, um zu einem
reichhaltigen und anziehenden Gemälde unsrer heimischen Sitten zu werden. Es
zeigt sich, daß wir doch auch in der Nachtseite des Lebens einige Virtuosität und
Ursprünglichkeit besitzen ; unsere Verbrecher haben einen Sarkasmus und eine Spitzig¬
keit, die sie von ihren Kollegen jenseits des Kanals und jenseit des Rheins vor¬
theilhaft uuterscheidet. Mau erinnere sich an jenen Schneiderlehrling, der seinen
Meister mit vielen Messerstichen ermordete, darauf, blutig wie er war, an eine
Schildwache herantrat, und ihr sagte: Blcchkappe, arretire Er mir! Ick bin ein
Mörder! -- Bei den jetzigen Crimiualuntersuchnngcn bietet fast ein jeder Prozeß
wieder einen neuen Zug von diesem scharfen, spitzigen Wesen des Berliner Pro¬
letariats, das die frühere Eckensteher-Literatur nnr zu äußerlichen Zwecken, und
darum auf eine uicht natürliche Weise ausgebeutet hat. Der "Publizist" hat
das Verdienst, diese Seite des Lebens mit der nöthigen Plastik nachzubilden; er
sucht in seinen Berichten nicht nnr ein wahrheitsgetreues, sondern auch lebendiges,
halb humoristisches Abbild dieser Verhandlungen und der in ihnen auftretenden
Figuren zu geben. Ob unsere belletristische Literatur sobald etwas dadurch ge¬
winnen wird, steht freilich in Frage; sie hat sich an das kritische, halb verhim¬
melnde Wesen so gewöhnt, daß alles Stoffliche, das ihr begegnet, nur wie ein
fremdartiges Ingrediens in ihre Reflexionen eintritt. Sie ist , beständig satirisch,
aber nie humoristisch, denn das Wesen des Humors'besteht darin, daß man das
Stoffliche anerkennt, auch wenn man darüber lacht. Von unseren Literaten
wüßte ich keinen, der im Stande wäre, anschaulich, episch zu erzählen, wenn ich
etwa Willibald Alexis ausnehme, und diesem fehlt wieder die eigentlich schöpfe¬
rische Kraft.

Insofern hat wirklich die Philosophie, als deren Metropole unser Berlin ge¬
rühmt wird, einen nicht eben vortheilhaften Einfluß ans unsere Literatur ausge¬
übt. Ich will damit keineswegs sagen, daß Viele unserer Literaten etwas von
der Philosophie verständen, aber abgerissene Brocken, halbgehörte Prinzipien werden
von einem dem Andern erzählt, und so wird dieser Grundzug des philosophischen
Denkens, niemals das Einzelne, Individuelle, Persönliche gelten zu lassen, son¬
dern nnr die in der Erscheinung sich aussprechende Idee, auch den naiven Unter-
haltungsschriften aufgeprägt. Es ist für den guten Ton nothwendig, daß jede


VI.

Die Zuchtpolizci und das Feuilleton. — Philosophie im Roman. — Deutsche Empfindung in, Aus¬
land. — Conflicte des Strafrechts. — Die Theater-Zulendanz und die Demokraten. —
Politische Novitäten.

In früheren Zeiten haben die deutschen Romanschriftsteller ihre schlechten
Machwerke immer damit entschuldigt, daß ihnen der Markt des Lebens nicht so
geöffnet sei, wie den Londoner und Pariser Feuilletonisten. Diese Ausrede wird
wenigstens für Berlin nicht lange mehr stichhaltig sei», denn die Oeffentlichkeit
der Gerichtsverhandlungen eröffnet uns Blicke in die Mysterien des Lebens, wie
sie nur des Griffels eines Eugene Sue oder Eh. Dickens bedürfen, um zu einem
reichhaltigen und anziehenden Gemälde unsrer heimischen Sitten zu werden. Es
zeigt sich, daß wir doch auch in der Nachtseite des Lebens einige Virtuosität und
Ursprünglichkeit besitzen ; unsere Verbrecher haben einen Sarkasmus und eine Spitzig¬
keit, die sie von ihren Kollegen jenseits des Kanals und jenseit des Rheins vor¬
theilhaft uuterscheidet. Mau erinnere sich an jenen Schneiderlehrling, der seinen
Meister mit vielen Messerstichen ermordete, darauf, blutig wie er war, an eine
Schildwache herantrat, und ihr sagte: Blcchkappe, arretire Er mir! Ick bin ein
Mörder! — Bei den jetzigen Crimiualuntersuchnngcn bietet fast ein jeder Prozeß
wieder einen neuen Zug von diesem scharfen, spitzigen Wesen des Berliner Pro¬
letariats, das die frühere Eckensteher-Literatur nnr zu äußerlichen Zwecken, und
darum auf eine uicht natürliche Weise ausgebeutet hat. Der „Publizist" hat
das Verdienst, diese Seite des Lebens mit der nöthigen Plastik nachzubilden; er
sucht in seinen Berichten nicht nnr ein wahrheitsgetreues, sondern auch lebendiges,
halb humoristisches Abbild dieser Verhandlungen und der in ihnen auftretenden
Figuren zu geben. Ob unsere belletristische Literatur sobald etwas dadurch ge¬
winnen wird, steht freilich in Frage; sie hat sich an das kritische, halb verhim¬
melnde Wesen so gewöhnt, daß alles Stoffliche, das ihr begegnet, nur wie ein
fremdartiges Ingrediens in ihre Reflexionen eintritt. Sie ist , beständig satirisch,
aber nie humoristisch, denn das Wesen des Humors'besteht darin, daß man das
Stoffliche anerkennt, auch wenn man darüber lacht. Von unseren Literaten
wüßte ich keinen, der im Stande wäre, anschaulich, episch zu erzählen, wenn ich
etwa Willibald Alexis ausnehme, und diesem fehlt wieder die eigentlich schöpfe¬
rische Kraft.

Insofern hat wirklich die Philosophie, als deren Metropole unser Berlin ge¬
rühmt wird, einen nicht eben vortheilhaften Einfluß ans unsere Literatur ausge¬
übt. Ich will damit keineswegs sagen, daß Viele unserer Literaten etwas von
der Philosophie verständen, aber abgerissene Brocken, halbgehörte Prinzipien werden
von einem dem Andern erzählt, und so wird dieser Grundzug des philosophischen
Denkens, niemals das Einzelne, Individuelle, Persönliche gelten zu lassen, son¬
dern nnr die in der Erscheinung sich aussprechende Idee, auch den naiven Unter-
haltungsschriften aufgeprägt. Es ist für den guten Ton nothwendig, daß jede


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[0402] VI. Die Zuchtpolizci und das Feuilleton. — Philosophie im Roman. — Deutsche Empfindung in, Aus¬ land. — Conflicte des Strafrechts. — Die Theater-Zulendanz und die Demokraten. — Politische Novitäten. In früheren Zeiten haben die deutschen Romanschriftsteller ihre schlechten Machwerke immer damit entschuldigt, daß ihnen der Markt des Lebens nicht so geöffnet sei, wie den Londoner und Pariser Feuilletonisten. Diese Ausrede wird wenigstens für Berlin nicht lange mehr stichhaltig sei», denn die Oeffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen eröffnet uns Blicke in die Mysterien des Lebens, wie sie nur des Griffels eines Eugene Sue oder Eh. Dickens bedürfen, um zu einem reichhaltigen und anziehenden Gemälde unsrer heimischen Sitten zu werden. Es zeigt sich, daß wir doch auch in der Nachtseite des Lebens einige Virtuosität und Ursprünglichkeit besitzen ; unsere Verbrecher haben einen Sarkasmus und eine Spitzig¬ keit, die sie von ihren Kollegen jenseits des Kanals und jenseit des Rheins vor¬ theilhaft uuterscheidet. Mau erinnere sich an jenen Schneiderlehrling, der seinen Meister mit vielen Messerstichen ermordete, darauf, blutig wie er war, an eine Schildwache herantrat, und ihr sagte: Blcchkappe, arretire Er mir! Ick bin ein Mörder! — Bei den jetzigen Crimiualuntersuchnngcn bietet fast ein jeder Prozeß wieder einen neuen Zug von diesem scharfen, spitzigen Wesen des Berliner Pro¬ letariats, das die frühere Eckensteher-Literatur nnr zu äußerlichen Zwecken, und darum auf eine uicht natürliche Weise ausgebeutet hat. Der „Publizist" hat das Verdienst, diese Seite des Lebens mit der nöthigen Plastik nachzubilden; er sucht in seinen Berichten nicht nnr ein wahrheitsgetreues, sondern auch lebendiges, halb humoristisches Abbild dieser Verhandlungen und der in ihnen auftretenden Figuren zu geben. Ob unsere belletristische Literatur sobald etwas dadurch ge¬ winnen wird, steht freilich in Frage; sie hat sich an das kritische, halb verhim¬ melnde Wesen so gewöhnt, daß alles Stoffliche, das ihr begegnet, nur wie ein fremdartiges Ingrediens in ihre Reflexionen eintritt. Sie ist , beständig satirisch, aber nie humoristisch, denn das Wesen des Humors'besteht darin, daß man das Stoffliche anerkennt, auch wenn man darüber lacht. Von unseren Literaten wüßte ich keinen, der im Stande wäre, anschaulich, episch zu erzählen, wenn ich etwa Willibald Alexis ausnehme, und diesem fehlt wieder die eigentlich schöpfe¬ rische Kraft. Insofern hat wirklich die Philosophie, als deren Metropole unser Berlin ge¬ rühmt wird, einen nicht eben vortheilhaften Einfluß ans unsere Literatur ausge¬ übt. Ich will damit keineswegs sagen, daß Viele unserer Literaten etwas von der Philosophie verständen, aber abgerissene Brocken, halbgehörte Prinzipien werden von einem dem Andern erzählt, und so wird dieser Grundzug des philosophischen Denkens, niemals das Einzelne, Individuelle, Persönliche gelten zu lassen, son¬ dern nnr die in der Erscheinung sich aussprechende Idee, auch den naiven Unter- haltungsschriften aufgeprägt. Es ist für den guten Ton nothwendig, daß jede

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/402>, abgerufen am 07.05.2024.