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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Skizzen ans Paris.
i.
Eine Vorlesung bei Michelet.

Ich war kaum eine Woche in Paris, als ich schon an einem frischen Morgen
über den Pont Neuf in's Quartier Ladin hinüber wandelte und meinen Weg zum
College de France suchte. Ich hatte die herkömmlichen Wanderungen vom Are
de l'Etoile bis zur Julisäule und von der Vendümesänle bis zu den Invaliden
gemacht und somit meinem Touristen gewiß in Bezug auf Mauern und Monu¬
mente genug gethan; nnn galt es zu versuchen, ob ich die Thätigkeit der Geister
in Paris kennen lernen könne, und da schien es mir das Zweckmäßigste bei der
hohen Schule zu beginnen.

Ich hatte an diesem Morgen zwischen berühmten Namen nur zu wählen. Der
Aesthetiker Mare Girardin, der Nationalökonom Michel Chevalier, der Astronom
Arrago und der Historiker Michelet lasen fast zu gleicher Stunde. Ich schwankte
einige Zeit zwischen so viel liommos Illustres, endlich entschied ich mich für den,
der mir der populärste schien, für Michelet. "Er hat mindestens achthundert Zu¬
hörer und liest über die französische Revolution", sagte mir mein gelehrter Wirth,
Herr Defay vom Hütel Violet.

Und so stand ich denn eines Morgens in der Mitte der Achthundert im Hofe
des College de France. Die Thüre des Kollegiums war geschlossen, denn die
Vorlesung sollte erst in einer halben Stunde beginnen, und die Regierung, um sich
den Schein zu verleihen, als ob sie die Vorträge Michelet's nicht gern sähe, hat den
Befehl gegeben, die Schüler vor der geschlossenen Thüre so lange als möglich war¬
ten zu lassen. Es war ein kalter Wintertag und man hatte alle Mühe sich mit
Rauchen, Singen und Springen warm zu erhalten. Von Zeit zu Zeit erhob sich
ein wildes Geschrei: "Die Thüre auf, oder wir brechen ein!" dann ward es wie¬
der ruhig und nur das Schnaufen und Trampeln der Achthundert brauste ringsum.
Plötzlich schlug eine Glocke und -- ich wußte uicht, wie mir geschah -- ich wurde
w die Höhe gehoben, ein ungeheures Toben und Poltern umgab mich und als
Atom einer menschlichen Lavine rollte ich durch die geöffnete Thür und über die
Schulbänke hinab in den Schlund eines Amphitheaters. Als ich wieder zu mir


Grenzboten. Hi. Is47. 58
Skizzen ans Paris.
i.
Eine Vorlesung bei Michelet.

Ich war kaum eine Woche in Paris, als ich schon an einem frischen Morgen
über den Pont Neuf in's Quartier Ladin hinüber wandelte und meinen Weg zum
College de France suchte. Ich hatte die herkömmlichen Wanderungen vom Are
de l'Etoile bis zur Julisäule und von der Vendümesänle bis zu den Invaliden
gemacht und somit meinem Touristen gewiß in Bezug auf Mauern und Monu¬
mente genug gethan; nnn galt es zu versuchen, ob ich die Thätigkeit der Geister
in Paris kennen lernen könne, und da schien es mir das Zweckmäßigste bei der
hohen Schule zu beginnen.

Ich hatte an diesem Morgen zwischen berühmten Namen nur zu wählen. Der
Aesthetiker Mare Girardin, der Nationalökonom Michel Chevalier, der Astronom
Arrago und der Historiker Michelet lasen fast zu gleicher Stunde. Ich schwankte
einige Zeit zwischen so viel liommos Illustres, endlich entschied ich mich für den,
der mir der populärste schien, für Michelet. „Er hat mindestens achthundert Zu¬
hörer und liest über die französische Revolution", sagte mir mein gelehrter Wirth,
Herr Defay vom Hütel Violet.

Und so stand ich denn eines Morgens in der Mitte der Achthundert im Hofe
des College de France. Die Thüre des Kollegiums war geschlossen, denn die
Vorlesung sollte erst in einer halben Stunde beginnen, und die Regierung, um sich
den Schein zu verleihen, als ob sie die Vorträge Michelet's nicht gern sähe, hat den
Befehl gegeben, die Schüler vor der geschlossenen Thüre so lange als möglich war¬
ten zu lassen. Es war ein kalter Wintertag und man hatte alle Mühe sich mit
Rauchen, Singen und Springen warm zu erhalten. Von Zeit zu Zeit erhob sich
ein wildes Geschrei: „Die Thüre auf, oder wir brechen ein!" dann ward es wie¬
der ruhig und nur das Schnaufen und Trampeln der Achthundert brauste ringsum.
Plötzlich schlug eine Glocke und — ich wußte uicht, wie mir geschah — ich wurde
w die Höhe gehoben, ein ungeheures Toben und Poltern umgab mich und als
Atom einer menschlichen Lavine rollte ich durch die geöffnete Thür und über die
Schulbänke hinab in den Schlund eines Amphitheaters. Als ich wieder zu mir


Grenzboten. Hi. Is47. 58
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[0443] Skizzen ans Paris. i. Eine Vorlesung bei Michelet. Ich war kaum eine Woche in Paris, als ich schon an einem frischen Morgen über den Pont Neuf in's Quartier Ladin hinüber wandelte und meinen Weg zum College de France suchte. Ich hatte die herkömmlichen Wanderungen vom Are de l'Etoile bis zur Julisäule und von der Vendümesänle bis zu den Invaliden gemacht und somit meinem Touristen gewiß in Bezug auf Mauern und Monu¬ mente genug gethan; nnn galt es zu versuchen, ob ich die Thätigkeit der Geister in Paris kennen lernen könne, und da schien es mir das Zweckmäßigste bei der hohen Schule zu beginnen. Ich hatte an diesem Morgen zwischen berühmten Namen nur zu wählen. Der Aesthetiker Mare Girardin, der Nationalökonom Michel Chevalier, der Astronom Arrago und der Historiker Michelet lasen fast zu gleicher Stunde. Ich schwankte einige Zeit zwischen so viel liommos Illustres, endlich entschied ich mich für den, der mir der populärste schien, für Michelet. „Er hat mindestens achthundert Zu¬ hörer und liest über die französische Revolution", sagte mir mein gelehrter Wirth, Herr Defay vom Hütel Violet. Und so stand ich denn eines Morgens in der Mitte der Achthundert im Hofe des College de France. Die Thüre des Kollegiums war geschlossen, denn die Vorlesung sollte erst in einer halben Stunde beginnen, und die Regierung, um sich den Schein zu verleihen, als ob sie die Vorträge Michelet's nicht gern sähe, hat den Befehl gegeben, die Schüler vor der geschlossenen Thüre so lange als möglich war¬ ten zu lassen. Es war ein kalter Wintertag und man hatte alle Mühe sich mit Rauchen, Singen und Springen warm zu erhalten. Von Zeit zu Zeit erhob sich ein wildes Geschrei: „Die Thüre auf, oder wir brechen ein!" dann ward es wie¬ der ruhig und nur das Schnaufen und Trampeln der Achthundert brauste ringsum. Plötzlich schlug eine Glocke und — ich wußte uicht, wie mir geschah — ich wurde w die Höhe gehoben, ein ungeheures Toben und Poltern umgab mich und als Atom einer menschlichen Lavine rollte ich durch die geöffnete Thür und über die Schulbänke hinab in den Schlund eines Amphitheaters. Als ich wieder zu mir Grenzboten. Hi. Is47. 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/443>, abgerufen am 07.05.2024.