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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Deutschland und Frankreich.



Die jüngste französische Revolution scheint ihre Phasen schneller durchzumachen,
als die blutige Umwälzung von 1789. Bereits am ersten Tage war sie in der
Republik, im dritten Monat ist sie in der Contrerevolution. Denn täuschen wir
uns darüber nicht, die Niederlage der Montagnards ist der erste Schritt zur Re¬
action. Die Bourgeoisie, das Frankreich der vorigen Regierung, ist einer furcht¬
baren Gefahr glücklich entgangen und wird nun ihrerseits eben so wenig Maß zu
halten wissen, als der Wahnsinn ihrer Gegner. Die großen Namen aus den
Zeiten der gestürzten Dynastie, die Thiers, die Barrot, die Girardin, tauchen
wieder auf und stellen die ganze suffisance des Egoismus, die Wohlbehaglichkeit
des Rechts, das sich im Besitze weiß, den Anforderungen der neuen Zeit entgegen.

Welches war das Feldgeschrei, in dem sich die verschiedenen Parteien ver¬
einigten, die Julidynastie zu stürzen? Die Korruption! -- Es war nicht eine
politische Rechtsverletzung von Seiten der Regierung, es war eine in ihren inner¬
sten Tiefen faule Gesellschaft, gegen die das moralische Gefühl der Nation pro-
testirte. Louis Philipp und Guizot waren nur Symbole vou dem herzlosen Sy¬
stem des Egoismus, welches das officielle Frankreich allen Ideen entfremdet, es
von jedem höhern Aufschwung zurückgehalten hatte.

Der schwüle Dunstkreis konnte nur durch ein Gewitter gelöst werden. Die
Nation wußte sich nicht anders dem Druck ihrer eignen gesellschaftlichen Verhält¬
nisse zu entziehen, als durch ein Verbrechen.

Es gibt Zeiten in der Geschichte, wo ein Verbrechen nothwendig wird, aber
es hört darum nicht auf, ein Verbrechen zu sein. Jede prinzipielle Aufhebung
des Gesetzes, jede Revolution ist ein Verbrechen und ein Unglück, mag sein Fluch
auch lediglich ans das Haupt der Tyrannen fallen, die ihre Macht mißbrauchten.
Das Verbrechen hebt die alte Schuld nicht auf, es vermehrt nur noch die Summe
des Uebels. Ich gehe weiter. Die Nothwendigkeit einer Revolution involvirt
nicht nur eine Schuld der Herrscher, sondern anch eine Schuld des Volkes, wel¬
ches nicht die unermüdliche Ausdauer des Widerstandes besaß. Wenigstens gilt
das in einem civilisirten Staate, wo trotz aller verdrehten Gesetze, trotz des


Deutschland und Frankreich.



Die jüngste französische Revolution scheint ihre Phasen schneller durchzumachen,
als die blutige Umwälzung von 1789. Bereits am ersten Tage war sie in der
Republik, im dritten Monat ist sie in der Contrerevolution. Denn täuschen wir
uns darüber nicht, die Niederlage der Montagnards ist der erste Schritt zur Re¬
action. Die Bourgeoisie, das Frankreich der vorigen Regierung, ist einer furcht¬
baren Gefahr glücklich entgangen und wird nun ihrerseits eben so wenig Maß zu
halten wissen, als der Wahnsinn ihrer Gegner. Die großen Namen aus den
Zeiten der gestürzten Dynastie, die Thiers, die Barrot, die Girardin, tauchen
wieder auf und stellen die ganze suffisance des Egoismus, die Wohlbehaglichkeit
des Rechts, das sich im Besitze weiß, den Anforderungen der neuen Zeit entgegen.

Welches war das Feldgeschrei, in dem sich die verschiedenen Parteien ver¬
einigten, die Julidynastie zu stürzen? Die Korruption! — Es war nicht eine
politische Rechtsverletzung von Seiten der Regierung, es war eine in ihren inner¬
sten Tiefen faule Gesellschaft, gegen die das moralische Gefühl der Nation pro-
testirte. Louis Philipp und Guizot waren nur Symbole vou dem herzlosen Sy¬
stem des Egoismus, welches das officielle Frankreich allen Ideen entfremdet, es
von jedem höhern Aufschwung zurückgehalten hatte.

Der schwüle Dunstkreis konnte nur durch ein Gewitter gelöst werden. Die
Nation wußte sich nicht anders dem Druck ihrer eignen gesellschaftlichen Verhält¬
nisse zu entziehen, als durch ein Verbrechen.

Es gibt Zeiten in der Geschichte, wo ein Verbrechen nothwendig wird, aber
es hört darum nicht auf, ein Verbrechen zu sein. Jede prinzipielle Aufhebung
des Gesetzes, jede Revolution ist ein Verbrechen und ein Unglück, mag sein Fluch
auch lediglich ans das Haupt der Tyrannen fallen, die ihre Macht mißbrauchten.
Das Verbrechen hebt die alte Schuld nicht auf, es vermehrt nur noch die Summe
des Uebels. Ich gehe weiter. Die Nothwendigkeit einer Revolution involvirt
nicht nur eine Schuld der Herrscher, sondern anch eine Schuld des Volkes, wel¬
ches nicht die unermüdliche Ausdauer des Widerstandes besaß. Wenigstens gilt
das in einem civilisirten Staate, wo trotz aller verdrehten Gesetze, trotz des


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[0348] Deutschland und Frankreich. Die jüngste französische Revolution scheint ihre Phasen schneller durchzumachen, als die blutige Umwälzung von 1789. Bereits am ersten Tage war sie in der Republik, im dritten Monat ist sie in der Contrerevolution. Denn täuschen wir uns darüber nicht, die Niederlage der Montagnards ist der erste Schritt zur Re¬ action. Die Bourgeoisie, das Frankreich der vorigen Regierung, ist einer furcht¬ baren Gefahr glücklich entgangen und wird nun ihrerseits eben so wenig Maß zu halten wissen, als der Wahnsinn ihrer Gegner. Die großen Namen aus den Zeiten der gestürzten Dynastie, die Thiers, die Barrot, die Girardin, tauchen wieder auf und stellen die ganze suffisance des Egoismus, die Wohlbehaglichkeit des Rechts, das sich im Besitze weiß, den Anforderungen der neuen Zeit entgegen. Welches war das Feldgeschrei, in dem sich die verschiedenen Parteien ver¬ einigten, die Julidynastie zu stürzen? Die Korruption! — Es war nicht eine politische Rechtsverletzung von Seiten der Regierung, es war eine in ihren inner¬ sten Tiefen faule Gesellschaft, gegen die das moralische Gefühl der Nation pro- testirte. Louis Philipp und Guizot waren nur Symbole vou dem herzlosen Sy¬ stem des Egoismus, welches das officielle Frankreich allen Ideen entfremdet, es von jedem höhern Aufschwung zurückgehalten hatte. Der schwüle Dunstkreis konnte nur durch ein Gewitter gelöst werden. Die Nation wußte sich nicht anders dem Druck ihrer eignen gesellschaftlichen Verhält¬ nisse zu entziehen, als durch ein Verbrechen. Es gibt Zeiten in der Geschichte, wo ein Verbrechen nothwendig wird, aber es hört darum nicht auf, ein Verbrechen zu sein. Jede prinzipielle Aufhebung des Gesetzes, jede Revolution ist ein Verbrechen und ein Unglück, mag sein Fluch auch lediglich ans das Haupt der Tyrannen fallen, die ihre Macht mißbrauchten. Das Verbrechen hebt die alte Schuld nicht auf, es vermehrt nur noch die Summe des Uebels. Ich gehe weiter. Die Nothwendigkeit einer Revolution involvirt nicht nur eine Schuld der Herrscher, sondern anch eine Schuld des Volkes, wel¬ ches nicht die unermüdliche Ausdauer des Widerstandes besaß. Wenigstens gilt das in einem civilisirten Staate, wo trotz aller verdrehten Gesetze, trotz des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/348>, abgerufen am 06.05.2024.