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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Jetzt ist wieder die Kirche der Popanz der uns schreckt. Aber ist eS nicht eine
Schmach für erwachsene Männer, sich vor ein Paar schwarzen Kutten zu fürchten?




EmiliaGolotti.



Das Leipziger Theater hat sein Contingent zum Lessing-Denkmal gestellt.
Nach einem Prolog von Berthold Auerbach, der die Bedeutung Lessing's für
die Befreiung des deutschen Geistes auf eine sinnige Weise entwickelte, wurde die
Cmilia Galotti aufgeführt. Drei Hauptrollen waren in guten Handen: Orsina
(Frl. Berg aus Dresden), Odoardo (Hr. Winger) und Cmilia (Frl. Schäfer).
Wunderlicher Weise wurde das Stück in modernem Costüm aufgeführt, obgleich,
abgesehen von der sittlichen Tendenz des Ganzen, auf die wir noch zurückkommen,
schon die äusseren Formen des Umgangs das Publicum in jedem Augenblick daran
erinnern, daß es sich in eine andere Zeit zurückversetzen muß. Emilia muß ebenso
im Rococo-Costüm dargestellt werden, als Minna von Barnhelm', Ctavigo,
Cabale und Liebe, Figaro u. s. w.

Cnülia ist der ersten Anlage nach beinahe ein Jahrhundert alt. 1759 wurde
es entworfen, 1771 vollendet, den 13. März 1772 zum erstenmal in Braun¬
schweig aufgeführt. -- Seit dieser Zeit hat die deutsche Poesie kein einziges
Drama geschaffen, welches einen wesentlichen Fortschritt im eigentlich künstlerischen
Sinn ausdrückte. Die beiden glänzendsten Dichter haben die Bühne auf Abwege
verleitet: Göthe durch maßloße Vertiefung in die innerliche Welt des Gemüths,
Schiller durch ein ebenso maßloses Ausbreiten in das Stoffliche. Die übrigen
Dichter sind bei Tendenzen geblieben.

Man suche in diesem Urtheil nicht mehr, als unmittelbar darin ausgesprochen
ist. Daß z. B. in Iphigenie, in Tasso eine reinere Form der Humanität und
eine reichere Welt der Poesie eröffnet ist, werde ich keinen Augenblick bezweifeln;
im Gegentheil ist der Zweck dieses Aussatzes, das Unvollkommene in der sittlichen
Grundidee nachzuweisen, von der Lessing ausging. Aber als Kunstwerk -- nicht
bloß in Beziehung auf die Technik, sondern anch was die Harmonie der Formen,
der Farben, der Stimmungen u. s. w. betrifft -- weiß ich ihm kein anderes an
die Seite zu stellen.

Woltmann, dessen "Memoiren des Freiherr" von S a" in den romantischen
Theccirkeln, die zu Anfang dieses Jahrhunderts das große Wort in der Literatur
führte", eine Autorität waren, finder in dem Verfasser der Emilia einen großen
Schachspieler; da sei jeder Zug berechnet, die kleinste Beweg"ug führe uut strenger
Nothwendigkeit auf das Eine Ziel hin, und als er an die Worte gekommen sei:
Cine Rose gebrochen, ehe sie der Sturm entblätterte! habe er unwillkührlich aus¬
rufen müssen: Schach dem Könige!


Jetzt ist wieder die Kirche der Popanz der uns schreckt. Aber ist eS nicht eine
Schmach für erwachsene Männer, sich vor ein Paar schwarzen Kutten zu fürchten?




EmiliaGolotti.



Das Leipziger Theater hat sein Contingent zum Lessing-Denkmal gestellt.
Nach einem Prolog von Berthold Auerbach, der die Bedeutung Lessing's für
die Befreiung des deutschen Geistes auf eine sinnige Weise entwickelte, wurde die
Cmilia Galotti aufgeführt. Drei Hauptrollen waren in guten Handen: Orsina
(Frl. Berg aus Dresden), Odoardo (Hr. Winger) und Cmilia (Frl. Schäfer).
Wunderlicher Weise wurde das Stück in modernem Costüm aufgeführt, obgleich,
abgesehen von der sittlichen Tendenz des Ganzen, auf die wir noch zurückkommen,
schon die äusseren Formen des Umgangs das Publicum in jedem Augenblick daran
erinnern, daß es sich in eine andere Zeit zurückversetzen muß. Emilia muß ebenso
im Rococo-Costüm dargestellt werden, als Minna von Barnhelm', Ctavigo,
Cabale und Liebe, Figaro u. s. w.

Cnülia ist der ersten Anlage nach beinahe ein Jahrhundert alt. 1759 wurde
es entworfen, 1771 vollendet, den 13. März 1772 zum erstenmal in Braun¬
schweig aufgeführt. — Seit dieser Zeit hat die deutsche Poesie kein einziges
Drama geschaffen, welches einen wesentlichen Fortschritt im eigentlich künstlerischen
Sinn ausdrückte. Die beiden glänzendsten Dichter haben die Bühne auf Abwege
verleitet: Göthe durch maßloße Vertiefung in die innerliche Welt des Gemüths,
Schiller durch ein ebenso maßloses Ausbreiten in das Stoffliche. Die übrigen
Dichter sind bei Tendenzen geblieben.

Man suche in diesem Urtheil nicht mehr, als unmittelbar darin ausgesprochen
ist. Daß z. B. in Iphigenie, in Tasso eine reinere Form der Humanität und
eine reichere Welt der Poesie eröffnet ist, werde ich keinen Augenblick bezweifeln;
im Gegentheil ist der Zweck dieses Aussatzes, das Unvollkommene in der sittlichen
Grundidee nachzuweisen, von der Lessing ausging. Aber als Kunstwerk — nicht
bloß in Beziehung auf die Technik, sondern anch was die Harmonie der Formen,
der Farben, der Stimmungen u. s. w. betrifft — weiß ich ihm kein anderes an
die Seite zu stellen.

Woltmann, dessen „Memoiren des Freiherr» von S a" in den romantischen
Theccirkeln, die zu Anfang dieses Jahrhunderts das große Wort in der Literatur
führte», eine Autorität waren, finder in dem Verfasser der Emilia einen großen
Schachspieler; da sei jeder Zug berechnet, die kleinste Beweg»ug führe uut strenger
Nothwendigkeit auf das Eine Ziel hin, und als er an die Worte gekommen sei:
Cine Rose gebrochen, ehe sie der Sturm entblätterte! habe er unwillkührlich aus¬
rufen müssen: Schach dem Könige!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/471>, abgerufen am 06.05.2024.