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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Geschichte. Mau hatte mit den alten Gesetzen der Religion und des Staats gebrochen,
man hatte es aber auf eine sehr oberflächliche Weise gethan. DaS aufgekärte
Christenthum und der aufgeklärte Absolutismus mußten einen tieferen Geist mehr
noch verletzen, als die alle Orthodoxie und der naive Despotismus, denn sie be¬
leidigten ihrer Zusammenhangslosigkeit wegen nicht nnr das moralische, sondern auch
das ästhetische Gefühl. Lessing ist in seinen religiösen Streitschriften mehr scharf¬
sinnig als ehrlich, ungefähr wie Odoardo dem Prinzen, wie Nathan dem Saladin
gegenüber. Kr widerlegte mit einer gewissen innern Lust die Sophistereien des auf¬
geklärten Christenthums, aber er sprach nicht aus, was er über das eigentliche
Christenthum dachte/ Wir müssen in seinen Briefen nachlesen, um uns darüber
Aufklärung zu verschaffen. Cs war das nicht äußerlicher Schein, sondern innere
Unsicherheit; er fühlte, daß der Boden unter seinen Füßen nicht fest war, und
wagte uicht, darin tiefer nachzugraben.

Diese Vereinzelung war in dem politischen Leben Deutschlands noch viel em-
pstndlicher. Das gesetzliche Wesen der Neichskammergerichte u. s. w. war in all¬
gemeinen Mißeredit gekommen, man ließ also der subjectiven Willkühr freien Spiel"
rann. Die liberalen Absolutisten, die über der Zweckmäßigkeit das Recht, ver¬
gaßen, die Freimaurer, die sich im phantastischen Traume über die Noth des
Wirklichen erhoben, Werther, der sich aus der schaalen Außenwelt in die uner¬
gründlichen Tiefen des Gemüths zurückzog, um darin unterzugehen, und Odoardo,
der ein Verbrechen begeht, um es als logische Folge der schlechten gesellschaftlichen
Zustände darzustellen und diese dadurch an! lrb8urcwui zu führen, sie alle sind
Ausdrücke eines und desselben Princips: des subjectiven Idealismus, der das
,l. .8. Gesetz der Welt uicht versteht, weil er sich selber nicht versteht.




Meine Corvespondenz und Notizen.



W nu a in W ordS w v r t h.

Der berühmte "philosophische" Dichter ist im April d. I. zu Nydal Mount in seinem
Li. Lebensjahre gestorben. -- Er war 1770 geboren und eigentlich für die Kirche be¬
stimmt. Aber die Neigung zur Poesie brachte ihn davon ub. Bon seinen Gönnern in
der Negierung erhielt er die Stelle eines Stempel-Einnehmers, die 1et35> dnrch eine
Pension von 300 L. erhebt wurde.

Sein erstes Werk war eine poetische Epistel an eine junge Dame von den Seen
im Norden Englands: "Ein Abendspaziergang" j.1793), die den zwei Jahre jüngeren
Colcridgc auf ihn aufmerksam machte, und seit 17W zu jener innigen Verbindung führte,
nus der die sogenannte "Schule der Seen" hervorging -- ein Spottname, hergeleitet
aus der Vorliebe der beiden. Dichter zu den Seen bei Nydal Mount, wo Wordsworth
seit seiner Verheirathung mit Mary Hutchinson 18V3 seinen Aufenthalt fand. Der
Dritte von den Dichtern, der sich an diese Schule "des Weinens und der Hypochondrie"
anschloß, war Robert Southoy.


Geschichte. Mau hatte mit den alten Gesetzen der Religion und des Staats gebrochen,
man hatte es aber auf eine sehr oberflächliche Weise gethan. DaS aufgekärte
Christenthum und der aufgeklärte Absolutismus mußten einen tieferen Geist mehr
noch verletzen, als die alle Orthodoxie und der naive Despotismus, denn sie be¬
leidigten ihrer Zusammenhangslosigkeit wegen nicht nnr das moralische, sondern auch
das ästhetische Gefühl. Lessing ist in seinen religiösen Streitschriften mehr scharf¬
sinnig als ehrlich, ungefähr wie Odoardo dem Prinzen, wie Nathan dem Saladin
gegenüber. Kr widerlegte mit einer gewissen innern Lust die Sophistereien des auf¬
geklärten Christenthums, aber er sprach nicht aus, was er über das eigentliche
Christenthum dachte/ Wir müssen in seinen Briefen nachlesen, um uns darüber
Aufklärung zu verschaffen. Cs war das nicht äußerlicher Schein, sondern innere
Unsicherheit; er fühlte, daß der Boden unter seinen Füßen nicht fest war, und
wagte uicht, darin tiefer nachzugraben.

Diese Vereinzelung war in dem politischen Leben Deutschlands noch viel em-
pstndlicher. Das gesetzliche Wesen der Neichskammergerichte u. s. w. war in all¬
gemeinen Mißeredit gekommen, man ließ also der subjectiven Willkühr freien Spiel"
rann. Die liberalen Absolutisten, die über der Zweckmäßigkeit das Recht, ver¬
gaßen, die Freimaurer, die sich im phantastischen Traume über die Noth des
Wirklichen erhoben, Werther, der sich aus der schaalen Außenwelt in die uner¬
gründlichen Tiefen des Gemüths zurückzog, um darin unterzugehen, und Odoardo,
der ein Verbrechen begeht, um es als logische Folge der schlechten gesellschaftlichen
Zustände darzustellen und diese dadurch an! lrb8urcwui zu führen, sie alle sind
Ausdrücke eines und desselben Princips: des subjectiven Idealismus, der das
,l. .8. Gesetz der Welt uicht versteht, weil er sich selber nicht versteht.




Meine Corvespondenz und Notizen.



W nu a in W ordS w v r t h.

Der berühmte „philosophische" Dichter ist im April d. I. zu Nydal Mount in seinem
Li. Lebensjahre gestorben. — Er war 1770 geboren und eigentlich für die Kirche be¬
stimmt. Aber die Neigung zur Poesie brachte ihn davon ub. Bon seinen Gönnern in
der Negierung erhielt er die Stelle eines Stempel-Einnehmers, die 1et35> dnrch eine
Pension von 300 L. erhebt wurde.

Sein erstes Werk war eine poetische Epistel an eine junge Dame von den Seen
im Norden Englands: „Ein Abendspaziergang" j.1793), die den zwei Jahre jüngeren
Colcridgc auf ihn aufmerksam machte, und seit 17W zu jener innigen Verbindung führte,
nus der die sogenannte „Schule der Seen" hervorging — ein Spottname, hergeleitet
aus der Vorliebe der beiden. Dichter zu den Seen bei Nydal Mount, wo Wordsworth
seit seiner Verheirathung mit Mary Hutchinson 18V3 seinen Aufenthalt fand. Der
Dritte von den Dichtern, der sich an diese Schule „des Weinens und der Hypochondrie"
anschloß, war Robert Southoy.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/476>, abgerufen am 06.05.2024.