Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
I o ron i as Gotth vis. >



Unsere gesammte moderne Literatur, wenn uta" sie im (Ganzen betrachtet,
setzt eine Trennung der realen Welt von der Welt der Gedanken, Empfindungen,
Ideale voraus. Auf der einen Seite stehen die Dichter, Denker ""d Propheten,
welche die göttliche" Keime deö Schönen, Große" und Guten voller Werdelnst in
ihrem Herzen trage", ans der andern die Masse, die mit Staunen deu Visionen
einer ihr vollkommen fremden Welt zusieht. Die Romantiker schrieben geradezu
nur für Seelen, in denen sie eine gleichgestimmte Seite voraussetze" konnten,
Seelen, die sich sür einen ästhetischen Thee qnalifieirten; aber anch ihre Gegner,
die Aufklärer, setzten sich lediglich ans das Eatheder, nahmen den Rohrstock i" die
Ha"d, und ließen sich nur dazu herab, dem "dummen Volk" Verstand einzn-
bläuen, wie der Schulmeister seinen dickköpfigen Jungen.

In beiden Fällen kam es z" dein ganz natürlichen Resultat, daß die Inspi¬
ration aus Mattgel alt Stoss verkümmerte. Die Aufklärer, deren Weisheit auf
ein paar ziemlich leicht z" erkennende Recepte zurückzuführen war, wurden zuletzt
langweilig, weil sie sich beständig wiederHollen; sie gaben sich so unendliche Mühe,
sich herabzulassen, sich dem. vorausgesetzten kindlichen Verstand derer, die sie er¬
leuchte" wolle", anzubequemen, daß es am Ende aussah, als ob die ganze Welt
nur aus blöden, stammelnden Kindern zusauuneugesetzt sei, unter denen sich die
einen nur durch ein angenommenes, altkluges Wesen vor de" andern auszeichneten.

Die Romantiker, die an das Wirkliche nicht glaubten, u"d die daher für
den weite" Athem ihrer Sehnsucht keine Grenze, für die Unendlichkeit ihrer
ahnungsvollen Perspectiven leinen Horizont fa"de", verflüchtigte" sich zuletzt in
jenen conventionelle" Seufzer ohne Anfang und Ende, deu ma" Weltschmerz
nannte, oder i" jene Welt-Ironie, die auf el" fest gewordenes, blödsinniges
Lächeln über deu allgemeine" Blödsinn der Welt herauskam.

Es war ein wüstes Wesen mit diese" Empfiudnnge" ohne Gegenstand, diesen
Phantasien ohne Gestalt, diesem Denke" ohne Beziehung. Die Romantik em¬
pfand das selbst und verfiel-vo" Zeit zu Zeit aus den Gedanke", sich durch das
Positive, Endliche, Jrratiouelle zu ergänze". Sie sprang ans den Gemälden der
"Verklärung" ins Genre über, aus der Mystik des Universums in die Mystik
des Details. Sie octrvyirte dem Volk das Conterfey eines idealen Volks, das
ganz Aberglaube, ganz Volkslied, ganz Spinnstube mit obligatem Mährchen, ganz
Zunft, ganz Bethaus sei" sollte; ein Volt, das sie nicht ans dein Markt aufsuchten,



Erzählungen und Bilder aus dem Volksleben der Schweiz. 1. Bd. Berlin, Springer.
Grenzboten. II. I8S0. 62
I o ron i as Gotth vis. >



Unsere gesammte moderne Literatur, wenn uta» sie im (Ganzen betrachtet,
setzt eine Trennung der realen Welt von der Welt der Gedanken, Empfindungen,
Ideale voraus. Auf der einen Seite stehen die Dichter, Denker »»d Propheten,
welche die göttliche» Keime deö Schönen, Große» und Guten voller Werdelnst in
ihrem Herzen trage», ans der andern die Masse, die mit Staunen deu Visionen
einer ihr vollkommen fremden Welt zusieht. Die Romantiker schrieben geradezu
nur für Seelen, in denen sie eine gleichgestimmte Seite voraussetze» konnten,
Seelen, die sich sür einen ästhetischen Thee qnalifieirten; aber anch ihre Gegner,
die Aufklärer, setzten sich lediglich ans das Eatheder, nahmen den Rohrstock i» die
Ha»d, und ließen sich nur dazu herab, dem „dummen Volk" Verstand einzn-
bläuen, wie der Schulmeister seinen dickköpfigen Jungen.

In beiden Fällen kam es z» dein ganz natürlichen Resultat, daß die Inspi¬
ration aus Mattgel alt Stoss verkümmerte. Die Aufklärer, deren Weisheit auf
ein paar ziemlich leicht z» erkennende Recepte zurückzuführen war, wurden zuletzt
langweilig, weil sie sich beständig wiederHollen; sie gaben sich so unendliche Mühe,
sich herabzulassen, sich dem. vorausgesetzten kindlichen Verstand derer, die sie er¬
leuchte» wolle», anzubequemen, daß es am Ende aussah, als ob die ganze Welt
nur aus blöden, stammelnden Kindern zusauuneugesetzt sei, unter denen sich die
einen nur durch ein angenommenes, altkluges Wesen vor de» andern auszeichneten.

Die Romantiker, die an das Wirkliche nicht glaubten, u»d die daher für
den weite» Athem ihrer Sehnsucht keine Grenze, für die Unendlichkeit ihrer
ahnungsvollen Perspectiven leinen Horizont fa»de», verflüchtigte» sich zuletzt in
jenen conventionelle» Seufzer ohne Anfang und Ende, deu ma» Weltschmerz
nannte, oder i» jene Welt-Ironie, die auf el» fest gewordenes, blödsinniges
Lächeln über deu allgemeine» Blödsinn der Welt herauskam.

Es war ein wüstes Wesen mit diese» Empfiudnnge» ohne Gegenstand, diesen
Phantasien ohne Gestalt, diesem Denke» ohne Beziehung. Die Romantik em¬
pfand das selbst und verfiel-vo» Zeit zu Zeit aus den Gedanke», sich durch das
Positive, Endliche, Jrratiouelle zu ergänze». Sie sprang ans den Gemälden der
„Verklärung" ins Genre über, aus der Mystik des Universums in die Mystik
des Details. Sie octrvyirte dem Volk das Conterfey eines idealen Volks, das
ganz Aberglaube, ganz Volkslied, ganz Spinnstube mit obligatem Mährchen, ganz
Zunft, ganz Bethaus sei» sollte; ein Volt, das sie nicht ans dein Markt aufsuchten,



Erzählungen und Bilder aus dem Volksleben der Schweiz. 1. Bd. Berlin, Springer.
Grenzboten. II. I8S0. 62
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0497" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185834"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> I o ron i as Gotth vis. &gt;</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1918"> Unsere gesammte moderne Literatur, wenn uta» sie im (Ganzen betrachtet,<lb/>
setzt eine Trennung der realen Welt von der Welt der Gedanken, Empfindungen,<lb/>
Ideale voraus. Auf der einen Seite stehen die Dichter, Denker »»d Propheten,<lb/>
welche die göttliche» Keime deö Schönen, Große» und Guten voller Werdelnst in<lb/>
ihrem Herzen trage», ans der andern die Masse, die mit Staunen deu Visionen<lb/>
einer ihr vollkommen fremden Welt zusieht. Die Romantiker schrieben geradezu<lb/>
nur für Seelen, in denen sie eine gleichgestimmte Seite voraussetze» konnten,<lb/>
Seelen, die sich sür einen ästhetischen Thee qnalifieirten; aber anch ihre Gegner,<lb/>
die Aufklärer, setzten sich lediglich ans das Eatheder, nahmen den Rohrstock i» die<lb/>
Ha»d, und ließen sich nur dazu herab, dem &#x201E;dummen Volk" Verstand einzn-<lb/>
bläuen, wie der Schulmeister seinen dickköpfigen Jungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1919"> In beiden Fällen kam es z» dein ganz natürlichen Resultat, daß die Inspi¬<lb/>
ration aus Mattgel alt Stoss verkümmerte. Die Aufklärer, deren Weisheit auf<lb/>
ein paar ziemlich leicht z» erkennende Recepte zurückzuführen war, wurden zuletzt<lb/>
langweilig, weil sie sich beständig wiederHollen; sie gaben sich so unendliche Mühe,<lb/>
sich herabzulassen, sich dem. vorausgesetzten kindlichen Verstand derer, die sie er¬<lb/>
leuchte» wolle», anzubequemen, daß es am Ende aussah, als ob die ganze Welt<lb/>
nur aus blöden, stammelnden Kindern zusauuneugesetzt sei, unter denen sich die<lb/>
einen nur durch ein angenommenes, altkluges Wesen vor de» andern auszeichneten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1920"> Die Romantiker, die an das Wirkliche nicht glaubten, u»d die daher für<lb/>
den weite» Athem ihrer Sehnsucht keine Grenze, für die Unendlichkeit ihrer<lb/>
ahnungsvollen Perspectiven leinen Horizont fa»de», verflüchtigte» sich zuletzt in<lb/>
jenen conventionelle» Seufzer ohne Anfang und Ende, deu ma» Weltschmerz<lb/>
nannte, oder i» jene Welt-Ironie, die auf el» fest gewordenes, blödsinniges<lb/>
Lächeln über deu allgemeine» Blödsinn der Welt herauskam.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1921" next="#ID_1922"> Es war ein wüstes Wesen mit diese» Empfiudnnge» ohne Gegenstand, diesen<lb/>
Phantasien ohne Gestalt, diesem Denke» ohne Beziehung. Die Romantik em¬<lb/>
pfand das selbst und verfiel-vo» Zeit zu Zeit aus den Gedanke», sich durch das<lb/>
Positive, Endliche, Jrratiouelle zu ergänze». Sie sprang ans den Gemälden der<lb/>
&#x201E;Verklärung" ins Genre über, aus der Mystik des Universums in die Mystik<lb/>
des Details. Sie octrvyirte dem Volk das Conterfey eines idealen Volks, das<lb/>
ganz Aberglaube, ganz Volkslied, ganz Spinnstube mit obligatem Mährchen, ganz<lb/>
Zunft, ganz Bethaus sei» sollte; ein Volt, das sie nicht ans dein Markt aufsuchten,</p><lb/>
          <note xml:id="FID_58" place="foot"> Erzählungen und Bilder aus dem Volksleben der Schweiz. 1. Bd. Berlin, Springer.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. II. I8S0. 62</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0497] I o ron i as Gotth vis. > Unsere gesammte moderne Literatur, wenn uta» sie im (Ganzen betrachtet, setzt eine Trennung der realen Welt von der Welt der Gedanken, Empfindungen, Ideale voraus. Auf der einen Seite stehen die Dichter, Denker »»d Propheten, welche die göttliche» Keime deö Schönen, Große» und Guten voller Werdelnst in ihrem Herzen trage», ans der andern die Masse, die mit Staunen deu Visionen einer ihr vollkommen fremden Welt zusieht. Die Romantiker schrieben geradezu nur für Seelen, in denen sie eine gleichgestimmte Seite voraussetze» konnten, Seelen, die sich sür einen ästhetischen Thee qnalifieirten; aber anch ihre Gegner, die Aufklärer, setzten sich lediglich ans das Eatheder, nahmen den Rohrstock i» die Ha»d, und ließen sich nur dazu herab, dem „dummen Volk" Verstand einzn- bläuen, wie der Schulmeister seinen dickköpfigen Jungen. In beiden Fällen kam es z» dein ganz natürlichen Resultat, daß die Inspi¬ ration aus Mattgel alt Stoss verkümmerte. Die Aufklärer, deren Weisheit auf ein paar ziemlich leicht z» erkennende Recepte zurückzuführen war, wurden zuletzt langweilig, weil sie sich beständig wiederHollen; sie gaben sich so unendliche Mühe, sich herabzulassen, sich dem. vorausgesetzten kindlichen Verstand derer, die sie er¬ leuchte» wolle», anzubequemen, daß es am Ende aussah, als ob die ganze Welt nur aus blöden, stammelnden Kindern zusauuneugesetzt sei, unter denen sich die einen nur durch ein angenommenes, altkluges Wesen vor de» andern auszeichneten. Die Romantiker, die an das Wirkliche nicht glaubten, u»d die daher für den weite» Athem ihrer Sehnsucht keine Grenze, für die Unendlichkeit ihrer ahnungsvollen Perspectiven leinen Horizont fa»de», verflüchtigte» sich zuletzt in jenen conventionelle» Seufzer ohne Anfang und Ende, deu ma» Weltschmerz nannte, oder i» jene Welt-Ironie, die auf el» fest gewordenes, blödsinniges Lächeln über deu allgemeine» Blödsinn der Welt herauskam. Es war ein wüstes Wesen mit diese» Empfiudnnge» ohne Gegenstand, diesen Phantasien ohne Gestalt, diesem Denke» ohne Beziehung. Die Romantik em¬ pfand das selbst und verfiel-vo» Zeit zu Zeit aus den Gedanke», sich durch das Positive, Endliche, Jrratiouelle zu ergänze». Sie sprang ans den Gemälden der „Verklärung" ins Genre über, aus der Mystik des Universums in die Mystik des Details. Sie octrvyirte dem Volk das Conterfey eines idealen Volks, das ganz Aberglaube, ganz Volkslied, ganz Spinnstube mit obligatem Mährchen, ganz Zunft, ganz Bethaus sei» sollte; ein Volt, das sie nicht ans dein Markt aufsuchten, Erzählungen und Bilder aus dem Volksleben der Schweiz. 1. Bd. Berlin, Springer. Grenzboten. II. I8S0. 62

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/497
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/497>, abgerufen am 06.05.2024.