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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Der Humanismus, als Cultur überhaupt betrachtet, hat es aber auch uicht
nöthig, denn er ist nicht der Gegensatz, sondern die Erfüllung der natürlichen
Entwickelung. So wenig die Wissenschaft Apostel bedarf, so wenig das Recht im
hohem Sinn. Das Christenthum zerschlägt die Individualitäten, auch die großem
der Volker; es duldet keinen erhöhten Patriotismus, kein lebendiges Nationalgefühl.
Die beiden Extreme des moderuisirteu Christenthums, der Socialismus und das
System der specistschen Freiheit, der Staatlvsigkeit, sind eben so hart gegen das
Wirkliche. Das Rechtsprincip dagegen, welches die Quelle unserer Bestrebungen
ist, erfüllt sich nur in der Mannigfaltigkeit der realen Welt, deren Streit zum
Vertrage führt, aber nicht zur Unterwerfung, nicht zur Vemichtuug eines Leben¬
digen, das noch die Lust am Leben hat.




Die Berliner Abendpost.

Unter sämmtlichen sogenannten demokratischen Blättern unsers Vaterlandes ist
die "Abeudpost" das einzige, welches ein bestimmtes Princip vertritt -- oder ver¬
treten hat, wird man vielleicht bald sagen, denn die preußische Regierung scheint
in ihrer Verfolgung gegen die Presse ihre größte Energie gegen diese Zeitung
gewendet zu haben, von der sie doch unmittelbar wenigstens den geringsten Nachtheil
zu befürchten hat. Denn eben ihres Princips wegen ist sie im höchsten Grade
unpopulär, sowohl in Beziehung auf den Inhalt als auf die Form; mit ihren
Glaubenssätzen, die nichts weniger als die conlanten Vorstellungen unserer revo¬
lutionären Epoche reproduciren, stößt sie in jedem Augenblick der Masse vor den
Kopf, und die Art und Weise, wie sie dieselben rechtfertigt, setzt, um richtig ver¬
standen zu werden, nicht nur eine Menge von Vorkenntnissen voraus, souderu vor
Allem eine gewisse Geläufigkeit im abstrakten Denken, die man am wenigsten bei
derjenigen Volksclasse erwarten kann, welche man gewöhnlich mit dem Namen
Demokratie bezeichnet. Die Deductionen der Abendpost sind schneidend kalt, wie
alle Deductionen der Sophistik -- ich gebrauche dieses Wort nichl gerade im
Übeln Sinn --; sie haben nichts "Herzerwärmendes", und das Volk verlangt
eine compacter": Speise. Zudem liegt uicht allein das Ziel ihrer Bestrebungen,
sondern auch der Aufang zur Ausführung derselben in so weitem Felde, daß es
einem preußischen Thiers schwer fallen würde, anzugeben, zu welchem ersten poli¬
tischen Schritt eine etwaige Majorität der principiell "anarchistischen" Partei führen
würde.

Die Regierung kann also zu ihrer Verfolgung nnr durch zwei Umstände be¬
stimmt worden sein: einmal, nach der gewöhnlichen Berliner Manier, Meinnngs-


Der Humanismus, als Cultur überhaupt betrachtet, hat es aber auch uicht
nöthig, denn er ist nicht der Gegensatz, sondern die Erfüllung der natürlichen
Entwickelung. So wenig die Wissenschaft Apostel bedarf, so wenig das Recht im
hohem Sinn. Das Christenthum zerschlägt die Individualitäten, auch die großem
der Volker; es duldet keinen erhöhten Patriotismus, kein lebendiges Nationalgefühl.
Die beiden Extreme des moderuisirteu Christenthums, der Socialismus und das
System der specistschen Freiheit, der Staatlvsigkeit, sind eben so hart gegen das
Wirkliche. Das Rechtsprincip dagegen, welches die Quelle unserer Bestrebungen
ist, erfüllt sich nur in der Mannigfaltigkeit der realen Welt, deren Streit zum
Vertrage führt, aber nicht zur Unterwerfung, nicht zur Vemichtuug eines Leben¬
digen, das noch die Lust am Leben hat.




Die Berliner Abendpost.

Unter sämmtlichen sogenannten demokratischen Blättern unsers Vaterlandes ist
die „Abeudpost" das einzige, welches ein bestimmtes Princip vertritt — oder ver¬
treten hat, wird man vielleicht bald sagen, denn die preußische Regierung scheint
in ihrer Verfolgung gegen die Presse ihre größte Energie gegen diese Zeitung
gewendet zu haben, von der sie doch unmittelbar wenigstens den geringsten Nachtheil
zu befürchten hat. Denn eben ihres Princips wegen ist sie im höchsten Grade
unpopulär, sowohl in Beziehung auf den Inhalt als auf die Form; mit ihren
Glaubenssätzen, die nichts weniger als die conlanten Vorstellungen unserer revo¬
lutionären Epoche reproduciren, stößt sie in jedem Augenblick der Masse vor den
Kopf, und die Art und Weise, wie sie dieselben rechtfertigt, setzt, um richtig ver¬
standen zu werden, nicht nur eine Menge von Vorkenntnissen voraus, souderu vor
Allem eine gewisse Geläufigkeit im abstrakten Denken, die man am wenigsten bei
derjenigen Volksclasse erwarten kann, welche man gewöhnlich mit dem Namen
Demokratie bezeichnet. Die Deductionen der Abendpost sind schneidend kalt, wie
alle Deductionen der Sophistik — ich gebrauche dieses Wort nichl gerade im
Übeln Sinn —; sie haben nichts „Herzerwärmendes", und das Volk verlangt
eine compacter«: Speise. Zudem liegt uicht allein das Ziel ihrer Bestrebungen,
sondern auch der Aufang zur Ausführung derselben in so weitem Felde, daß es
einem preußischen Thiers schwer fallen würde, anzugeben, zu welchem ersten poli¬
tischen Schritt eine etwaige Majorität der principiell „anarchistischen" Partei führen
würde.

Die Regierung kann also zu ihrer Verfolgung nnr durch zwei Umstände be¬
stimmt worden sein: einmal, nach der gewöhnlichen Berliner Manier, Meinnngs-


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[0223] Der Humanismus, als Cultur überhaupt betrachtet, hat es aber auch uicht nöthig, denn er ist nicht der Gegensatz, sondern die Erfüllung der natürlichen Entwickelung. So wenig die Wissenschaft Apostel bedarf, so wenig das Recht im hohem Sinn. Das Christenthum zerschlägt die Individualitäten, auch die großem der Volker; es duldet keinen erhöhten Patriotismus, kein lebendiges Nationalgefühl. Die beiden Extreme des moderuisirteu Christenthums, der Socialismus und das System der specistschen Freiheit, der Staatlvsigkeit, sind eben so hart gegen das Wirkliche. Das Rechtsprincip dagegen, welches die Quelle unserer Bestrebungen ist, erfüllt sich nur in der Mannigfaltigkeit der realen Welt, deren Streit zum Vertrage führt, aber nicht zur Unterwerfung, nicht zur Vemichtuug eines Leben¬ digen, das noch die Lust am Leben hat. Die Berliner Abendpost. Unter sämmtlichen sogenannten demokratischen Blättern unsers Vaterlandes ist die „Abeudpost" das einzige, welches ein bestimmtes Princip vertritt — oder ver¬ treten hat, wird man vielleicht bald sagen, denn die preußische Regierung scheint in ihrer Verfolgung gegen die Presse ihre größte Energie gegen diese Zeitung gewendet zu haben, von der sie doch unmittelbar wenigstens den geringsten Nachtheil zu befürchten hat. Denn eben ihres Princips wegen ist sie im höchsten Grade unpopulär, sowohl in Beziehung auf den Inhalt als auf die Form; mit ihren Glaubenssätzen, die nichts weniger als die conlanten Vorstellungen unserer revo¬ lutionären Epoche reproduciren, stößt sie in jedem Augenblick der Masse vor den Kopf, und die Art und Weise, wie sie dieselben rechtfertigt, setzt, um richtig ver¬ standen zu werden, nicht nur eine Menge von Vorkenntnissen voraus, souderu vor Allem eine gewisse Geläufigkeit im abstrakten Denken, die man am wenigsten bei derjenigen Volksclasse erwarten kann, welche man gewöhnlich mit dem Namen Demokratie bezeichnet. Die Deductionen der Abendpost sind schneidend kalt, wie alle Deductionen der Sophistik — ich gebrauche dieses Wort nichl gerade im Übeln Sinn —; sie haben nichts „Herzerwärmendes", und das Volk verlangt eine compacter«: Speise. Zudem liegt uicht allein das Ziel ihrer Bestrebungen, sondern auch der Aufang zur Ausführung derselben in so weitem Felde, daß es einem preußischen Thiers schwer fallen würde, anzugeben, zu welchem ersten poli¬ tischen Schritt eine etwaige Majorität der principiell „anarchistischen" Partei führen würde. Die Regierung kann also zu ihrer Verfolgung nnr durch zwei Umstände be¬ stimmt worden sein: einmal, nach der gewöhnlichen Berliner Manier, Meinnngs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/223>, abgerufen am 08.05.2024.