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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Kleine Reisebilder.
Von Dover nach Antwerpen.

Montag ausgenommen, -- weil Sonntags das General-Post-Amt in London
keine Briefe befördert, weder für's Inland, noch ins Ausland -- dampft täglich
ein Regierungs-Packetboot, den Briefbeutcl am Bord, von Dover nach Ostende.
Jenen Briefbeutel überbringt ein Eisenbahnzug, welcher Abends acht Uhr London
verläßt. Dover hat keinen pier, keinen Uebergang vom Lande auf die Schiffe
zur Zeit der Ebbe. Die Schiffe liegen am Quai, hoch, wenn Fluch, tief, wenn
Ebbe ist, und mittelst Leitern steigt man aufs Verdeck. Deshalb bestimmt die
Fluthzeit das Auslaufen und das der Packetboote erfolgt zwischen der elften Nacht-
und der fünften Morgenstunde, nie früher, nie später.

An dem Morgen, wo ich mein Haupt in Wasserdampf hüllen wollte, war
halb fünf Uhr die Abfahrtzcit. Halb fünf ist in dem englischen Hotels eine sehr
frühe Stunde, der Abreisende erhält den Morgenimbiß, wenn es just nicht
mehr Zeit ist, ihn zu genießen, und die Nachr"ug, wenn es nnr eben noch Zeit
ist, zu bezahlen, nicht sie zu prüfen. Also wollte ich jedem Dover-Hotel ein
Schnippchen schlagen und die Nacht ans dem Dampfschiffe bleiben. Hatte des¬
halb bei meiner Ankunft den Gepäcksträger bedeutet, mich dorthin zu führen. Er
that's ohne Einwand. Was Halle er anch einwenden können, da ich in London
auf dem betreffenden Bureau mich ausdrücklich erkundigt, ob das Schiff Betten
habe, und noch überdies ein Deutscher, ein Landsmann, mir die Frage bejaht?
Dennoch meine ich, daß, wenn Dover ein französischer oder deutscher Hafenort
und der Träger nicht Engländer, sondern Deutscher oder Franzose gewesen wäre,
er etwas eingewendet haben würde. Der Engländer schwieg ungerührt. Und
als mir an Bord bemerkt wurde, daß zwar mein Gepäck, aber nicht ich daselbst
bleiben, ich erst eine halbe Stunde vor der Abfahrt Aufnahme finden könne, ver¬
hehlte er uicht, daß er das auch gewußt, doch, Sir, entgegnete er, "Sie wollten
an Bord". Das konnte ich nicht bestreiten. Aber in London war ich betrogen
worden und von einem Landsmanne. Mein Aerger über die Täuschung ergoß sich
gegen den Steward, der mir den abfälligen Bescheid gegeben und mich theil-
nahmlos, die Pfeife im Munde, gegen die Kajüte gelehnt, anhörte. Er sollte
wenigstens meinen deutschen Zorn über deu Londoner Büreaumcnschen billigen,
aber auch er schwieg ungerührt, und Alles, was ich ihm zuletzt abdrückte, war die
Aeußerung, daß in London viel gelogen werde -- teil suclr lies were."
Es ist möglich, daß ich ehedem in London seltener mit Unwahrheit bedient wor¬
den bin, als diesmal. Nur bleibt das Wort: Lügner, immer noch die Heraus¬
forderung zu einem Faustschlag, und ein Zweifel an der Wahrheit einer Versiche¬
rung wird bisweilen mit eiuer Weise erwidert, die einem geschulten Deutschen


GrenMcu. Ul. 18ö0. 12
Kleine Reisebilder.
Von Dover nach Antwerpen.

Montag ausgenommen, — weil Sonntags das General-Post-Amt in London
keine Briefe befördert, weder für's Inland, noch ins Ausland — dampft täglich
ein Regierungs-Packetboot, den Briefbeutcl am Bord, von Dover nach Ostende.
Jenen Briefbeutel überbringt ein Eisenbahnzug, welcher Abends acht Uhr London
verläßt. Dover hat keinen pier, keinen Uebergang vom Lande auf die Schiffe
zur Zeit der Ebbe. Die Schiffe liegen am Quai, hoch, wenn Fluch, tief, wenn
Ebbe ist, und mittelst Leitern steigt man aufs Verdeck. Deshalb bestimmt die
Fluthzeit das Auslaufen und das der Packetboote erfolgt zwischen der elften Nacht-
und der fünften Morgenstunde, nie früher, nie später.

An dem Morgen, wo ich mein Haupt in Wasserdampf hüllen wollte, war
halb fünf Uhr die Abfahrtzcit. Halb fünf ist in dem englischen Hotels eine sehr
frühe Stunde, der Abreisende erhält den Morgenimbiß, wenn es just nicht
mehr Zeit ist, ihn zu genießen, und die Nachr»ug, wenn es nnr eben noch Zeit
ist, zu bezahlen, nicht sie zu prüfen. Also wollte ich jedem Dover-Hotel ein
Schnippchen schlagen und die Nacht ans dem Dampfschiffe bleiben. Hatte des¬
halb bei meiner Ankunft den Gepäcksträger bedeutet, mich dorthin zu führen. Er
that's ohne Einwand. Was Halle er anch einwenden können, da ich in London
auf dem betreffenden Bureau mich ausdrücklich erkundigt, ob das Schiff Betten
habe, und noch überdies ein Deutscher, ein Landsmann, mir die Frage bejaht?
Dennoch meine ich, daß, wenn Dover ein französischer oder deutscher Hafenort
und der Träger nicht Engländer, sondern Deutscher oder Franzose gewesen wäre,
er etwas eingewendet haben würde. Der Engländer schwieg ungerührt. Und
als mir an Bord bemerkt wurde, daß zwar mein Gepäck, aber nicht ich daselbst
bleiben, ich erst eine halbe Stunde vor der Abfahrt Aufnahme finden könne, ver¬
hehlte er uicht, daß er das auch gewußt, doch, Sir, entgegnete er, „Sie wollten
an Bord". Das konnte ich nicht bestreiten. Aber in London war ich betrogen
worden und von einem Landsmanne. Mein Aerger über die Täuschung ergoß sich
gegen den Steward, der mir den abfälligen Bescheid gegeben und mich theil-
nahmlos, die Pfeife im Munde, gegen die Kajüte gelehnt, anhörte. Er sollte
wenigstens meinen deutschen Zorn über deu Londoner Büreaumcnschen billigen,
aber auch er schwieg ungerührt, und Alles, was ich ihm zuletzt abdrückte, war die
Aeußerung, daß in London viel gelogen werde — teil suclr lies were."
Es ist möglich, daß ich ehedem in London seltener mit Unwahrheit bedient wor¬
den bin, als diesmal. Nur bleibt das Wort: Lügner, immer noch die Heraus¬
forderung zu einem Faustschlag, und ein Zweifel an der Wahrheit einer Versiche¬
rung wird bisweilen mit eiuer Weise erwidert, die einem geschulten Deutschen


GrenMcu. Ul. 18ö0. 12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/97>, abgerufen am 07.05.2024.