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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Der Rubin. Ein Mährchen-Lustspiel in 3 Auszügen. -- Ein Trauerspiel in
Sicilien. Tragikomödie in 1 Auszüge. -- 1851, Leipzig, Geibel.

Seit der Recension, welche ich vor drei Jahren über Hebbel schrieb (Grenz¬
boten 18^,7, Heft 35), hat sich das Material zu seiner Beurtheilung nicht unbeträcht¬
lich vermehrt. Außer eiuer Reihe vou Gedichten, kleinen Novellen, politischen,
ästhetischen, orthographischen Abhandlungen (z. B. über die tiefere Bedeutung des
Semikolons), und den obenangeführten zwei Theaterstücken, sind noch zwei größere
Dramen: "Julia" und "Herodes und Marianne" erschienen, zum Theil ans der
Bühne, und ein kleines Stück: "Der Moloch." -- Wenn es auch zunächst nur
meine Absicht ist, jene beiden Dramen genauer zu erörtern, so muß ich dabei doch
anch ans die Gesammtthätigkeit des Dichters Rücksicht nehmen.

Jene frühere Kritik hatte den Fehler, daß sie unter dem ersten, unmittelbaren
Eindruck eiuer mächtigen, aber incommensnrablen, widerspruchvollen Natur ge¬
schrieben war, und daher mehr pathologisch als analytisch verfuhr; daß sie voreilig
jene Anarchie des Wertes in die Seele des Dichters legte. -- Bei ruhigerem
Nachdenken, wenn man die Art des Producirens aufmerksamer belauscht, ver¬
liert sich Manches von dem Schrecken, den jene Natur einflößt, aber auch freilich
Manches vou der Macht des Eindrucks.

Hebbel's Fehler gehen mit seinen Verdiensten Hand in Hand, und zwar so,
daß, wenn ich die einen aufzähle, die andern implicite darin schon enthalten sind.

Einmal. In der Zeichnung seiner Charaktere läßt er sich niemals, weder
dnrch Nachgiebigkeit gegen das Publicum, noch dnrch eigne Bonhommie, verführen,
von dem ursprünglichen Plane abzugehen; er behauptet eine unerbittliche Conse-
quenz, und man wird jeden Einfall, jede Empfindung, jede Handlung, die er
von ihnen darstellt, mit dem beabsichtigten Grundton ihres Charakters in eine
directe Verbindung bringen to'unen. Dies ist ein großes Verdienst, und um so
anerkennenswerther, je seltener es ist in einer Zeit, wo die Reflexion alle Be-


Grcnzboten. IV. 1850. 91
F r i e d r i es H e b b e l.

Der Rubin. Ein Mährchen-Lustspiel in 3 Auszügen. — Ein Trauerspiel in
Sicilien. Tragikomödie in 1 Auszüge. — 1851, Leipzig, Geibel.

Seit der Recension, welche ich vor drei Jahren über Hebbel schrieb (Grenz¬
boten 18^,7, Heft 35), hat sich das Material zu seiner Beurtheilung nicht unbeträcht¬
lich vermehrt. Außer eiuer Reihe vou Gedichten, kleinen Novellen, politischen,
ästhetischen, orthographischen Abhandlungen (z. B. über die tiefere Bedeutung des
Semikolons), und den obenangeführten zwei Theaterstücken, sind noch zwei größere
Dramen: „Julia" und „Herodes und Marianne" erschienen, zum Theil ans der
Bühne, und ein kleines Stück: „Der Moloch." — Wenn es auch zunächst nur
meine Absicht ist, jene beiden Dramen genauer zu erörtern, so muß ich dabei doch
anch ans die Gesammtthätigkeit des Dichters Rücksicht nehmen.

Jene frühere Kritik hatte den Fehler, daß sie unter dem ersten, unmittelbaren
Eindruck eiuer mächtigen, aber incommensnrablen, widerspruchvollen Natur ge¬
schrieben war, und daher mehr pathologisch als analytisch verfuhr; daß sie voreilig
jene Anarchie des Wertes in die Seele des Dichters legte. — Bei ruhigerem
Nachdenken, wenn man die Art des Producirens aufmerksamer belauscht, ver¬
liert sich Manches von dem Schrecken, den jene Natur einflößt, aber auch freilich
Manches vou der Macht des Eindrucks.

Hebbel's Fehler gehen mit seinen Verdiensten Hand in Hand, und zwar so,
daß, wenn ich die einen aufzähle, die andern implicite darin schon enthalten sind.

Einmal. In der Zeichnung seiner Charaktere läßt er sich niemals, weder
dnrch Nachgiebigkeit gegen das Publicum, noch dnrch eigne Bonhommie, verführen,
von dem ursprünglichen Plane abzugehen; er behauptet eine unerbittliche Conse-
quenz, und man wird jeden Einfall, jede Empfindung, jede Handlung, die er
von ihnen darstellt, mit dem beabsichtigten Grundton ihres Charakters in eine
directe Verbindung bringen to'unen. Dies ist ein großes Verdienst, und um so
anerkennenswerther, je seltener es ist in einer Zeit, wo die Reflexion alle Be-


Grcnzboten. IV. 1850. 91
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[0209] F r i e d r i es H e b b e l. Der Rubin. Ein Mährchen-Lustspiel in 3 Auszügen. — Ein Trauerspiel in Sicilien. Tragikomödie in 1 Auszüge. — 1851, Leipzig, Geibel. Seit der Recension, welche ich vor drei Jahren über Hebbel schrieb (Grenz¬ boten 18^,7, Heft 35), hat sich das Material zu seiner Beurtheilung nicht unbeträcht¬ lich vermehrt. Außer eiuer Reihe vou Gedichten, kleinen Novellen, politischen, ästhetischen, orthographischen Abhandlungen (z. B. über die tiefere Bedeutung des Semikolons), und den obenangeführten zwei Theaterstücken, sind noch zwei größere Dramen: „Julia" und „Herodes und Marianne" erschienen, zum Theil ans der Bühne, und ein kleines Stück: „Der Moloch." — Wenn es auch zunächst nur meine Absicht ist, jene beiden Dramen genauer zu erörtern, so muß ich dabei doch anch ans die Gesammtthätigkeit des Dichters Rücksicht nehmen. Jene frühere Kritik hatte den Fehler, daß sie unter dem ersten, unmittelbaren Eindruck eiuer mächtigen, aber incommensnrablen, widerspruchvollen Natur ge¬ schrieben war, und daher mehr pathologisch als analytisch verfuhr; daß sie voreilig jene Anarchie des Wertes in die Seele des Dichters legte. — Bei ruhigerem Nachdenken, wenn man die Art des Producirens aufmerksamer belauscht, ver¬ liert sich Manches von dem Schrecken, den jene Natur einflößt, aber auch freilich Manches vou der Macht des Eindrucks. Hebbel's Fehler gehen mit seinen Verdiensten Hand in Hand, und zwar so, daß, wenn ich die einen aufzähle, die andern implicite darin schon enthalten sind. Einmal. In der Zeichnung seiner Charaktere läßt er sich niemals, weder dnrch Nachgiebigkeit gegen das Publicum, noch dnrch eigne Bonhommie, verführen, von dem ursprünglichen Plane abzugehen; er behauptet eine unerbittliche Conse- quenz, und man wird jeden Einfall, jede Empfindung, jede Handlung, die er von ihnen darstellt, mit dem beabsichtigten Grundton ihres Charakters in eine directe Verbindung bringen to'unen. Dies ist ein großes Verdienst, und um so anerkennenswerther, je seltener es ist in einer Zeit, wo die Reflexion alle Be- Grcnzboten. IV. 1850. 91

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/209>, abgerufen am 04.05.2024.