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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Die dramatische Behandlung des Mährchens.

Der Rubin. Ein Mährchen-Lustspiel von F. Hebbel. Leipzig, Geibel.

Der Rubin ist nicht mit d em Diamanten desselben Dichters zu verwechseln.
Er ist nicht, wie dieser, ein bloßer Stein des Anstoßes, durch welchen die selbst¬
süchtige Natur aller Meuscheu, die ihn berühren, an den Tag kommt, nicht blos ein
Prüfstein für ihre Moralität; es ist kein Zufall, daß Assad, als er deu Rubin zuerst
erblickt, vollständig die Besinnung verliert, Raub und Mord verübt, die ganze Welt
mit Füßen treten will, und voller Entzücken ausruft: "Hier sehe ich den Mittelpunkt
der Welt! Wer diesen Stein ergreift und daun in's Meer herab sich stürzt, der
zieht die Könige sich wie die Bettler nach! Die ganze Erde wird menschenleer in
Einem Augenblick!" Denn die Gluth, die aus diesem Edelsteine in sein Auge
strahlt, ist der Liebesblick der schöusten Prinzessin, die ein böser Zauberer in den
Krystall gebannt hat. Ihr Blut hat ihn geröthet. Assad soll das engelgleiche
Geschöpf erlösen. Aber wie schwer hat es ihm der verruchte Schwarzkünstler ge¬
macht! Wenn es uur seiue Aufgabe wäre, deu Stein zu küssen, oder anzubeten,
ihn aus einem Schmelzofen oder aus dem Abgrund der Erde, aus den Tiefen
des Oceans zu holen, mit Riesen, Drachen und Dämonen um ihn zu kämpfen,
für ihn zu sterben -- Assad würde das Alles mit Entzücken und Leichtigkeit voll¬
bringen. Aber -- er soll ihn wegwerfen! Auf die Idee kommt kein Liebender,
und ich fürchte, die schöne Fatime wird bis zum jüngsten Gericht in ihrem
krystallnen Kerker schmachten.

Ja, wenn es ihr noch verstattet wäre, die Bedingung ihrer Erweckung dem
sehnsuchtsvollen Jüngling zu offenbaren! Denn einmal, nnr einmal ist es ihm
vergönnt, sie zu sehen, als er um Mitternacht den Rubin dreimal an seine Lippen
drückt. Sie erscheint, und kann sich ihres verzauberten Zustandes, der um schon
ein Jahr dauert, nicht mehr erinnern, wohl aber noch der letzten Worte des
Zauberers. Könnte sie ihm nnr einen Wink geben! Aber nein, der Fluch ver¬
schließt ihr deu Mund, sie kehrt hoffnungslos in ihren kostbaren Sarg zurück.

Was hat es schon für Umstände gemacht, den Stein überhaupt nur in Assad's
Hände zu spielen! Denn wenn Jemand, so ist Assad der Mann, der den Besitz
der edelsten Jungfrau verdient. Er ist rechtschaffen und edel, er hat nicht nur
seinen alten Vater treulich gepflegt, sondern auch die Sperlinge, die vor seinem
Fenster nisteten. Diese Züge hat der Prophet in das Buch des Lebens verzeichnet,
und ein gewisser Jrad, der ein Engel, oder ein Geist, oder ein wohlthätiger
Zauberer ist -- genau wird man davon nicht unterrichtet -- der sich aber jedenfalls
zu jenem schwarzen Zauberer verhält, wie Ormuz zum Ahriman, hat ihn aus-


Grenzboten. IV. 1850. 97
Die dramatische Behandlung des Mährchens.

Der Rubin. Ein Mährchen-Lustspiel von F. Hebbel. Leipzig, Geibel.

Der Rubin ist nicht mit d em Diamanten desselben Dichters zu verwechseln.
Er ist nicht, wie dieser, ein bloßer Stein des Anstoßes, durch welchen die selbst¬
süchtige Natur aller Meuscheu, die ihn berühren, an den Tag kommt, nicht blos ein
Prüfstein für ihre Moralität; es ist kein Zufall, daß Assad, als er deu Rubin zuerst
erblickt, vollständig die Besinnung verliert, Raub und Mord verübt, die ganze Welt
mit Füßen treten will, und voller Entzücken ausruft: „Hier sehe ich den Mittelpunkt
der Welt! Wer diesen Stein ergreift und daun in's Meer herab sich stürzt, der
zieht die Könige sich wie die Bettler nach! Die ganze Erde wird menschenleer in
Einem Augenblick!" Denn die Gluth, die aus diesem Edelsteine in sein Auge
strahlt, ist der Liebesblick der schöusten Prinzessin, die ein böser Zauberer in den
Krystall gebannt hat. Ihr Blut hat ihn geröthet. Assad soll das engelgleiche
Geschöpf erlösen. Aber wie schwer hat es ihm der verruchte Schwarzkünstler ge¬
macht! Wenn es uur seiue Aufgabe wäre, deu Stein zu küssen, oder anzubeten,
ihn aus einem Schmelzofen oder aus dem Abgrund der Erde, aus den Tiefen
des Oceans zu holen, mit Riesen, Drachen und Dämonen um ihn zu kämpfen,
für ihn zu sterben — Assad würde das Alles mit Entzücken und Leichtigkeit voll¬
bringen. Aber — er soll ihn wegwerfen! Auf die Idee kommt kein Liebender,
und ich fürchte, die schöne Fatime wird bis zum jüngsten Gericht in ihrem
krystallnen Kerker schmachten.

Ja, wenn es ihr noch verstattet wäre, die Bedingung ihrer Erweckung dem
sehnsuchtsvollen Jüngling zu offenbaren! Denn einmal, nnr einmal ist es ihm
vergönnt, sie zu sehen, als er um Mitternacht den Rubin dreimal an seine Lippen
drückt. Sie erscheint, und kann sich ihres verzauberten Zustandes, der um schon
ein Jahr dauert, nicht mehr erinnern, wohl aber noch der letzten Worte des
Zauberers. Könnte sie ihm nnr einen Wink geben! Aber nein, der Fluch ver¬
schließt ihr deu Mund, sie kehrt hoffnungslos in ihren kostbaren Sarg zurück.

Was hat es schon für Umstände gemacht, den Stein überhaupt nur in Assad's
Hände zu spielen! Denn wenn Jemand, so ist Assad der Mann, der den Besitz
der edelsten Jungfrau verdient. Er ist rechtschaffen und edel, er hat nicht nur
seinen alten Vater treulich gepflegt, sondern auch die Sperlinge, die vor seinem
Fenster nisteten. Diese Züge hat der Prophet in das Buch des Lebens verzeichnet,
und ein gewisser Jrad, der ein Engel, oder ein Geist, oder ein wohlthätiger
Zauberer ist — genau wird man davon nicht unterrichtet — der sich aber jedenfalls
zu jenem schwarzen Zauberer verhält, wie Ormuz zum Ahriman, hat ihn aus-


Grenzboten. IV. 1850. 97
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[0257] Die dramatische Behandlung des Mährchens. Der Rubin. Ein Mährchen-Lustspiel von F. Hebbel. Leipzig, Geibel. Der Rubin ist nicht mit d em Diamanten desselben Dichters zu verwechseln. Er ist nicht, wie dieser, ein bloßer Stein des Anstoßes, durch welchen die selbst¬ süchtige Natur aller Meuscheu, die ihn berühren, an den Tag kommt, nicht blos ein Prüfstein für ihre Moralität; es ist kein Zufall, daß Assad, als er deu Rubin zuerst erblickt, vollständig die Besinnung verliert, Raub und Mord verübt, die ganze Welt mit Füßen treten will, und voller Entzücken ausruft: „Hier sehe ich den Mittelpunkt der Welt! Wer diesen Stein ergreift und daun in's Meer herab sich stürzt, der zieht die Könige sich wie die Bettler nach! Die ganze Erde wird menschenleer in Einem Augenblick!" Denn die Gluth, die aus diesem Edelsteine in sein Auge strahlt, ist der Liebesblick der schöusten Prinzessin, die ein böser Zauberer in den Krystall gebannt hat. Ihr Blut hat ihn geröthet. Assad soll das engelgleiche Geschöpf erlösen. Aber wie schwer hat es ihm der verruchte Schwarzkünstler ge¬ macht! Wenn es uur seiue Aufgabe wäre, deu Stein zu küssen, oder anzubeten, ihn aus einem Schmelzofen oder aus dem Abgrund der Erde, aus den Tiefen des Oceans zu holen, mit Riesen, Drachen und Dämonen um ihn zu kämpfen, für ihn zu sterben — Assad würde das Alles mit Entzücken und Leichtigkeit voll¬ bringen. Aber — er soll ihn wegwerfen! Auf die Idee kommt kein Liebender, und ich fürchte, die schöne Fatime wird bis zum jüngsten Gericht in ihrem krystallnen Kerker schmachten. Ja, wenn es ihr noch verstattet wäre, die Bedingung ihrer Erweckung dem sehnsuchtsvollen Jüngling zu offenbaren! Denn einmal, nnr einmal ist es ihm vergönnt, sie zu sehen, als er um Mitternacht den Rubin dreimal an seine Lippen drückt. Sie erscheint, und kann sich ihres verzauberten Zustandes, der um schon ein Jahr dauert, nicht mehr erinnern, wohl aber noch der letzten Worte des Zauberers. Könnte sie ihm nnr einen Wink geben! Aber nein, der Fluch ver¬ schließt ihr deu Mund, sie kehrt hoffnungslos in ihren kostbaren Sarg zurück. Was hat es schon für Umstände gemacht, den Stein überhaupt nur in Assad's Hände zu spielen! Denn wenn Jemand, so ist Assad der Mann, der den Besitz der edelsten Jungfrau verdient. Er ist rechtschaffen und edel, er hat nicht nur seinen alten Vater treulich gepflegt, sondern auch die Sperlinge, die vor seinem Fenster nisteten. Diese Züge hat der Prophet in das Buch des Lebens verzeichnet, und ein gewisser Jrad, der ein Engel, oder ein Geist, oder ein wohlthätiger Zauberer ist — genau wird man davon nicht unterrichtet — der sich aber jedenfalls zu jenem schwarzen Zauberer verhält, wie Ormuz zum Ahriman, hat ihn aus- Grenzboten. IV. 1850. 97

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/257>, abgerufen am 04.05.2024.