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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Die Wiederaufnahme des Classicismus im französischen
Theater.

Die Abneigung, welche nicht nur in dem bessern Theil der französischen
Kritik, sondern auch im Publicum gegen das gespreizte Wesen der Romantiker
ebenso wie gegen die leichtfertige Manier der Vaudeville-Dichter herrschend ge¬
worden ist, geht ursprünglich hervor ans der Reaction des eigentlich französischen
Geistes gegen den Einstich der Deutschen und Engländer. Nur ist diese Re¬
action ebensowenig frei von den Einwirkungen deö Geistes, den sie bekämpft, als
die Romantik frei war von der französischen Natur, von der sie sich abwandte. In dem
Spiel der Rachel, die sich mit großem Eigensinn ans die classische Schule ein¬
schränkt, wird man ebensowenig die Zeitgenossin Victor Hugo's verkennen, als
in Victor Hugo selbst den Landsmann Corneille's.

Erst durch das Spiel der Rachel siud wir darauf gekommen, die altfranzösi¬
schen Stücke in einem andern Licht zu betrachten, als wir es seit Lessing und
Schlegel gewöhnt waren. Wenn man von Corneille und Racine sprach, so
dachte man eigentlich nur an Boileau, und auch diesen kannte man meistens nur
aus der Tradition. Man stellte sich pedantische Schulmeister vor mit der Perücke
auf dem Kopf und die Tabatiere in der Hand, die auf Gottsched'sche Manier
sich in steifen Alexandrinern unterhielten, und durch die Galanterien, die sie sich
gegenseitig sagten, ebenso wie durch ihr Costüm die römischen Namen, die sie
trugen, verhöhnten. Abgesehen davon, daß die Perücken erst in einer Zeit auf¬
kamen, wo Corneille bereits gestorben, und Racine so fromm geworden war, daß
er an seine Stücke nur mit dem Gefühl einer büßenden Magdelena gegen ihre
vergangenen Liebesfreuden dachte, sollte man sich doch etwas besinnen, ehe man
eine Zeit, in der Pascal, Cartesius, Spinoza, Calderon, Wallenstein, Cromwell ze.
blühten, so ohne weiteres für ein Zeitalter der Pedanterie ansieht, und die gro¬
ßen Dichter, die eiuer solchen Zeit imponirt haben, für Schulmeister nach dem
Bilde Gottsched's, das wir aus Göthe's Wahrheit und Dichtung überkommen haben.

Wenn wir die Rachel znerst, etwa als Camille in den Horatiern sehen, einer
Rolle, in der sie sich selbst am meisten zu gefallen scheint, so reißt das alle unsere
Vorstellungen von Perücken und pedantische:: Schulmeistern über den Haufen,
und da es unbequem ist, sich schnell einer alten Gewohnheit des Denkens zu ent¬
zieh", so glauben wir nicht anders, als daß die geniale Schauspielerin eigen-
mächtig dem alten Dichter einen ihm vollkommen fremdem Charakter octroyirt
hat. Wenn wir aber nachher den Text zur Hand nehmen, so überzeugen wir
uns, daß ihr Spiel nicht nur ein berechtigtes, soudern ein nothwendiges war.
' Wir haben freilich von dem Schauspiel aus der ersten Hälfte des 17. Jahr-


Die Wiederaufnahme des Classicismus im französischen
Theater.

Die Abneigung, welche nicht nur in dem bessern Theil der französischen
Kritik, sondern auch im Publicum gegen das gespreizte Wesen der Romantiker
ebenso wie gegen die leichtfertige Manier der Vaudeville-Dichter herrschend ge¬
worden ist, geht ursprünglich hervor ans der Reaction des eigentlich französischen
Geistes gegen den Einstich der Deutschen und Engländer. Nur ist diese Re¬
action ebensowenig frei von den Einwirkungen deö Geistes, den sie bekämpft, als
die Romantik frei war von der französischen Natur, von der sie sich abwandte. In dem
Spiel der Rachel, die sich mit großem Eigensinn ans die classische Schule ein¬
schränkt, wird man ebensowenig die Zeitgenossin Victor Hugo's verkennen, als
in Victor Hugo selbst den Landsmann Corneille's.

Erst durch das Spiel der Rachel siud wir darauf gekommen, die altfranzösi¬
schen Stücke in einem andern Licht zu betrachten, als wir es seit Lessing und
Schlegel gewöhnt waren. Wenn man von Corneille und Racine sprach, so
dachte man eigentlich nur an Boileau, und auch diesen kannte man meistens nur
aus der Tradition. Man stellte sich pedantische Schulmeister vor mit der Perücke
auf dem Kopf und die Tabatiere in der Hand, die auf Gottsched'sche Manier
sich in steifen Alexandrinern unterhielten, und durch die Galanterien, die sie sich
gegenseitig sagten, ebenso wie durch ihr Costüm die römischen Namen, die sie
trugen, verhöhnten. Abgesehen davon, daß die Perücken erst in einer Zeit auf¬
kamen, wo Corneille bereits gestorben, und Racine so fromm geworden war, daß
er an seine Stücke nur mit dem Gefühl einer büßenden Magdelena gegen ihre
vergangenen Liebesfreuden dachte, sollte man sich doch etwas besinnen, ehe man
eine Zeit, in der Pascal, Cartesius, Spinoza, Calderon, Wallenstein, Cromwell ze.
blühten, so ohne weiteres für ein Zeitalter der Pedanterie ansieht, und die gro¬
ßen Dichter, die eiuer solchen Zeit imponirt haben, für Schulmeister nach dem
Bilde Gottsched's, das wir aus Göthe's Wahrheit und Dichtung überkommen haben.

Wenn wir die Rachel znerst, etwa als Camille in den Horatiern sehen, einer
Rolle, in der sie sich selbst am meisten zu gefallen scheint, so reißt das alle unsere
Vorstellungen von Perücken und pedantische:: Schulmeistern über den Haufen,
und da es unbequem ist, sich schnell einer alten Gewohnheit des Denkens zu ent¬
zieh«, so glauben wir nicht anders, als daß die geniale Schauspielerin eigen-
mächtig dem alten Dichter einen ihm vollkommen fremdem Charakter octroyirt
hat. Wenn wir aber nachher den Text zur Hand nehmen, so überzeugen wir
uns, daß ihr Spiel nicht nur ein berechtigtes, soudern ein nothwendiges war.
' Wir haben freilich von dem Schauspiel aus der ersten Hälfte des 17. Jahr-


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[0480] Die Wiederaufnahme des Classicismus im französischen Theater. Die Abneigung, welche nicht nur in dem bessern Theil der französischen Kritik, sondern auch im Publicum gegen das gespreizte Wesen der Romantiker ebenso wie gegen die leichtfertige Manier der Vaudeville-Dichter herrschend ge¬ worden ist, geht ursprünglich hervor ans der Reaction des eigentlich französischen Geistes gegen den Einstich der Deutschen und Engländer. Nur ist diese Re¬ action ebensowenig frei von den Einwirkungen deö Geistes, den sie bekämpft, als die Romantik frei war von der französischen Natur, von der sie sich abwandte. In dem Spiel der Rachel, die sich mit großem Eigensinn ans die classische Schule ein¬ schränkt, wird man ebensowenig die Zeitgenossin Victor Hugo's verkennen, als in Victor Hugo selbst den Landsmann Corneille's. Erst durch das Spiel der Rachel siud wir darauf gekommen, die altfranzösi¬ schen Stücke in einem andern Licht zu betrachten, als wir es seit Lessing und Schlegel gewöhnt waren. Wenn man von Corneille und Racine sprach, so dachte man eigentlich nur an Boileau, und auch diesen kannte man meistens nur aus der Tradition. Man stellte sich pedantische Schulmeister vor mit der Perücke auf dem Kopf und die Tabatiere in der Hand, die auf Gottsched'sche Manier sich in steifen Alexandrinern unterhielten, und durch die Galanterien, die sie sich gegenseitig sagten, ebenso wie durch ihr Costüm die römischen Namen, die sie trugen, verhöhnten. Abgesehen davon, daß die Perücken erst in einer Zeit auf¬ kamen, wo Corneille bereits gestorben, und Racine so fromm geworden war, daß er an seine Stücke nur mit dem Gefühl einer büßenden Magdelena gegen ihre vergangenen Liebesfreuden dachte, sollte man sich doch etwas besinnen, ehe man eine Zeit, in der Pascal, Cartesius, Spinoza, Calderon, Wallenstein, Cromwell ze. blühten, so ohne weiteres für ein Zeitalter der Pedanterie ansieht, und die gro¬ ßen Dichter, die eiuer solchen Zeit imponirt haben, für Schulmeister nach dem Bilde Gottsched's, das wir aus Göthe's Wahrheit und Dichtung überkommen haben. Wenn wir die Rachel znerst, etwa als Camille in den Horatiern sehen, einer Rolle, in der sie sich selbst am meisten zu gefallen scheint, so reißt das alle unsere Vorstellungen von Perücken und pedantische:: Schulmeistern über den Haufen, und da es unbequem ist, sich schnell einer alten Gewohnheit des Denkens zu ent¬ zieh«, so glauben wir nicht anders, als daß die geniale Schauspielerin eigen- mächtig dem alten Dichter einen ihm vollkommen fremdem Charakter octroyirt hat. Wenn wir aber nachher den Text zur Hand nehmen, so überzeugen wir uns, daß ihr Spiel nicht nur ein berechtigtes, soudern ein nothwendiges war. ' Wir haben freilich von dem Schauspiel aus der ersten Hälfte des 17. Jahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/480>, abgerufen am 04.05.2024.