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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Beiträge zur Geschichte der ungarischen Revolution.



n.

Wer die Auswanderung von Pesth nach Szegedin in den ersten Tagen des
Juli nicht gesehen, ja wer nicht selbst daran Theil genommen hat und auf den
Stationen Czegled, Szolnok und Kecskemet, wo die Flüchtlinge sich sammelten,
um dem allgemeinen Ziele zuzuströmen, den Anfang des Ganzen aus den ein¬
zelnen Massen abschätzen konnte, der wird sich unmöglich vorstellen, welch' kolossale
Ausdehnung die ungarische Revolution in diesem an Wohlleben und adliges t-rr mente
gewohnten Lande gewonnen hatte. Man denke sich einen ganzen wohl eingerichteten,
civilisirten Staat mit seinen Ministerien, Departements, Bureaus, Archive", Ge¬
richtshöfen , Universitäten, Spitälern und Kunstschätzen ans der Flucht vor einer
heranstürmenden Horde und man hat ein Bild von dem letzten Abzüge der Un¬
garn aus Pesth in den ersten Tagen des Juli 1849.

Im Januar dieses Jahres war es die Revolution, die sich in der Person
ihrer Fahnenträger nach Debreczin zurückzog: jetzt hatte sich die Revolution der
Herzen der ungebildeten Menge wie der Intelligenzen bemächtigt, sie flüchtete und
mit ihr flüchtete der Geist aus dem Körper Ungarns. Der auffallendste Umstand
aber in dieser traurigen Epoche ist, daß zwar die Hauptstadt schon in den letzten
Tagen vor dem Auszug eine sehr verzweifelte Physiognomie angenommen hatte,
die auswandernden Individuen aber nur wenig von dieser Entmuthigung er¬
griffen waren. -- Der Ausländer, und vor Allen der bedächtig vorschreitende
Deutsche, wird vielleicht diese sorglose Hingebung Leichtsinn schelten, allein
wer das ungarische Volk und die damaligen Verhältnisse genau kennt, wird sich
doch über die unzerstörbare Zuversicht der Meisten nicht wundern. Die ungarische
Sache war damals allerdings auf einen Punkt gekommen, wo kein Rücktritt möglich
und die Erfolge der Nation so weit gediehen waren, daß, wenn nicht massenhafter
Verrath vorfiel, an den damals noch Niemand glaubte, selbst im schlimmsten Falle
eine bewaffnete Transaction für Ungarn übrig zu sein schien. Außerdem war sich
Ungarn der großen Sympathien bewußt, die in jener Zeit in allen Staaten Eu¬
ropas für sein Schicksal erwachten; und daß die Sympathien der Völker so wenig
fruchten, das hat uus ebeu erst der definitive Fall Ungarns gelehrt. Endlich
war man gewöhnt, so viele Versprechungen, welche die Regierung sonst geleistet
hatte und die man lange für unausführbar gehalten hatte, in wundervoller Erfül¬
lung zu sehen, daß auch die jetzigen zuversichtlichen Aeußerungen der Regierung
nicht verfehlten, die Gemüther einigermaßen zu beruhigen.

Die Negierung hatte in der That bei ihrem Einzuge in Szegedin noch die


Beiträge zur Geschichte der ungarischen Revolution.



n.

Wer die Auswanderung von Pesth nach Szegedin in den ersten Tagen des
Juli nicht gesehen, ja wer nicht selbst daran Theil genommen hat und auf den
Stationen Czegled, Szolnok und Kecskemet, wo die Flüchtlinge sich sammelten,
um dem allgemeinen Ziele zuzuströmen, den Anfang des Ganzen aus den ein¬
zelnen Massen abschätzen konnte, der wird sich unmöglich vorstellen, welch' kolossale
Ausdehnung die ungarische Revolution in diesem an Wohlleben und adliges t-rr mente
gewohnten Lande gewonnen hatte. Man denke sich einen ganzen wohl eingerichteten,
civilisirten Staat mit seinen Ministerien, Departements, Bureaus, Archive», Ge¬
richtshöfen , Universitäten, Spitälern und Kunstschätzen ans der Flucht vor einer
heranstürmenden Horde und man hat ein Bild von dem letzten Abzüge der Un¬
garn aus Pesth in den ersten Tagen des Juli 1849.

Im Januar dieses Jahres war es die Revolution, die sich in der Person
ihrer Fahnenträger nach Debreczin zurückzog: jetzt hatte sich die Revolution der
Herzen der ungebildeten Menge wie der Intelligenzen bemächtigt, sie flüchtete und
mit ihr flüchtete der Geist aus dem Körper Ungarns. Der auffallendste Umstand
aber in dieser traurigen Epoche ist, daß zwar die Hauptstadt schon in den letzten
Tagen vor dem Auszug eine sehr verzweifelte Physiognomie angenommen hatte,
die auswandernden Individuen aber nur wenig von dieser Entmuthigung er¬
griffen waren. — Der Ausländer, und vor Allen der bedächtig vorschreitende
Deutsche, wird vielleicht diese sorglose Hingebung Leichtsinn schelten, allein
wer das ungarische Volk und die damaligen Verhältnisse genau kennt, wird sich
doch über die unzerstörbare Zuversicht der Meisten nicht wundern. Die ungarische
Sache war damals allerdings auf einen Punkt gekommen, wo kein Rücktritt möglich
und die Erfolge der Nation so weit gediehen waren, daß, wenn nicht massenhafter
Verrath vorfiel, an den damals noch Niemand glaubte, selbst im schlimmsten Falle
eine bewaffnete Transaction für Ungarn übrig zu sein schien. Außerdem war sich
Ungarn der großen Sympathien bewußt, die in jener Zeit in allen Staaten Eu¬
ropas für sein Schicksal erwachten; und daß die Sympathien der Völker so wenig
fruchten, das hat uus ebeu erst der definitive Fall Ungarns gelehrt. Endlich
war man gewöhnt, so viele Versprechungen, welche die Regierung sonst geleistet
hatte und die man lange für unausführbar gehalten hatte, in wundervoller Erfül¬
lung zu sehen, daß auch die jetzigen zuversichtlichen Aeußerungen der Regierung
nicht verfehlten, die Gemüther einigermaßen zu beruhigen.

Die Negierung hatte in der That bei ihrem Einzuge in Szegedin noch die


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[0149] Beiträge zur Geschichte der ungarischen Revolution. n. Wer die Auswanderung von Pesth nach Szegedin in den ersten Tagen des Juli nicht gesehen, ja wer nicht selbst daran Theil genommen hat und auf den Stationen Czegled, Szolnok und Kecskemet, wo die Flüchtlinge sich sammelten, um dem allgemeinen Ziele zuzuströmen, den Anfang des Ganzen aus den ein¬ zelnen Massen abschätzen konnte, der wird sich unmöglich vorstellen, welch' kolossale Ausdehnung die ungarische Revolution in diesem an Wohlleben und adliges t-rr mente gewohnten Lande gewonnen hatte. Man denke sich einen ganzen wohl eingerichteten, civilisirten Staat mit seinen Ministerien, Departements, Bureaus, Archive», Ge¬ richtshöfen , Universitäten, Spitälern und Kunstschätzen ans der Flucht vor einer heranstürmenden Horde und man hat ein Bild von dem letzten Abzüge der Un¬ garn aus Pesth in den ersten Tagen des Juli 1849. Im Januar dieses Jahres war es die Revolution, die sich in der Person ihrer Fahnenträger nach Debreczin zurückzog: jetzt hatte sich die Revolution der Herzen der ungebildeten Menge wie der Intelligenzen bemächtigt, sie flüchtete und mit ihr flüchtete der Geist aus dem Körper Ungarns. Der auffallendste Umstand aber in dieser traurigen Epoche ist, daß zwar die Hauptstadt schon in den letzten Tagen vor dem Auszug eine sehr verzweifelte Physiognomie angenommen hatte, die auswandernden Individuen aber nur wenig von dieser Entmuthigung er¬ griffen waren. — Der Ausländer, und vor Allen der bedächtig vorschreitende Deutsche, wird vielleicht diese sorglose Hingebung Leichtsinn schelten, allein wer das ungarische Volk und die damaligen Verhältnisse genau kennt, wird sich doch über die unzerstörbare Zuversicht der Meisten nicht wundern. Die ungarische Sache war damals allerdings auf einen Punkt gekommen, wo kein Rücktritt möglich und die Erfolge der Nation so weit gediehen waren, daß, wenn nicht massenhafter Verrath vorfiel, an den damals noch Niemand glaubte, selbst im schlimmsten Falle eine bewaffnete Transaction für Ungarn übrig zu sein schien. Außerdem war sich Ungarn der großen Sympathien bewußt, die in jener Zeit in allen Staaten Eu¬ ropas für sein Schicksal erwachten; und daß die Sympathien der Völker so wenig fruchten, das hat uus ebeu erst der definitive Fall Ungarns gelehrt. Endlich war man gewöhnt, so viele Versprechungen, welche die Regierung sonst geleistet hatte und die man lange für unausführbar gehalten hatte, in wundervoller Erfül¬ lung zu sehen, daß auch die jetzigen zuversichtlichen Aeußerungen der Regierung nicht verfehlten, die Gemüther einigermaßen zu beruhigen. Die Negierung hatte in der That bei ihrem Einzuge in Szegedin noch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/149>, abgerufen am 04.05.2024.