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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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liebsten die Festsetzung eines Maximum des Tagelöhners, um den Gutsbesitzer
gegen die übertriebenen Ansprüche der Feldarbeiter zu schützen.

So verschieden ist die polnische Demokratie und der polnische Radicalismus
von dem, was man in Westeuropa nnter diesen Benennungen versteht. In Polen
begreift man noch so ziemlich den Westen, und hat auch nichts dagegen, daß dort
die Freiheit und Gleichheit sich auch auf Bürger und Bauern erstrecke. Die
deutschen und französischen Demokraten aber ahnen kaum, zu welchen ketzerischen
Irrlehren sich ihre vermeintlichen Glaubensgenossen in Polen bekennen, und ihre
Sympathien für dieselben beruhen zum großen Theile auf einem argen Mißver¬
ständnisse.




Wochenschau.
Dramaturgische Miseelle.

Die Leipziger Aufführung des Herrschen
Drama's: König Nerv's Tochter, veranlaßt uns zu einigen Bemerkungen. Ueber
die Fehler dieses Stückes ist die deutsche Kritik wol einig. Einmal ist die körperliche
Jnfirmität ein ungeeigneter Gegenstand für das Drama, wie das Börne bei seiner
Recension über Houwald''s "Bild" vollkommen richtig auseinandergesetzt hat. Sodann ist es
in unsrer Zeit, wo bis zu einem gewissen Umfang die medicinische Kenntniß sich über
alle Kreise verbreitet hat, unerlaubt, eine Cur bewerkstelligen zu lassen, an die Niemand,
mehr glaubt. Daß die Blindheit durch thierischen Magnetismus, durch Liebe, durch
Nachdenken und durch astrologische Amulete geheilt wird, lassen wir uns nicht mehr
einreden, am wenigsten in einem Stück, welches durchaus den Charakter des pragma¬
tischen Verstandes an sich trägt. Die ganze Anlage ist nämlich nicht aus dem Ge¬
fühl oder der Phantasie, sondern aus dem calculireudc" Verstand hervorgegangen-
Das Problem, wie eine Blinde spricht und sich benimmt, der man es sorgfältig ver¬
heimlicht hat, daß ihrer Sinnesthätigkeit etwas fehlt, kann nur durch Reflexion gelöst
werden, und reflectirt ist die ganze Art und Weise ihres Denkens und Empfindens,
die sorgfältig vor jeder Anspielung auf den Sinn des Gesichts behütet wird. Die
Ausgabe hat etwas Aehnliches mit jenem bekannten Spiel, wo man eine Geschichte
schreiben muß, in der ein bestimmter Buchstabe nicht vorkommt. -- Abgesehen von
diesen Fehlern, die freilich den Keim seines Organismus treffen, ist das Stück mit
vieler Grazie und technischem Geschick ausgearbeitet und verdient schon als Gegensatz
gegen die liederlichen und willkürlichen Sudeleien/ mit denen unser Theater jetzt überschüttet
wird, eine sorgfältige Aufführung. Die Aufführung ist aber in allen Theatern, wo
wir sie gesehen haben, vergriffen. Das Stück soll einen heitern Eindruck machen; das
kann es aber nicht, wenn die Umgebungen Jolanthe's, die sich doch in funfzehn Jahre"
einigermaßen an das Unglück ihres Schützlings hätte gewöhnen können, fortwährend
heulen, ächzen, seufzen und jammern, und wenn Jolanthe selbst sich in der feierlichen
gespenstischen Weise einer Nachtwandlerin bewegt, ans deren leidenden Zügen sich ein
tiefer geheimer Schmerz ausspricht. Schon das feierliche Vorwärtsschreiten mit vorge¬
streckten Händen ist gegen die Absicht des Dichters, und selbst gegen die Natur, denn


liebsten die Festsetzung eines Maximum des Tagelöhners, um den Gutsbesitzer
gegen die übertriebenen Ansprüche der Feldarbeiter zu schützen.

So verschieden ist die polnische Demokratie und der polnische Radicalismus
von dem, was man in Westeuropa nnter diesen Benennungen versteht. In Polen
begreift man noch so ziemlich den Westen, und hat auch nichts dagegen, daß dort
die Freiheit und Gleichheit sich auch auf Bürger und Bauern erstrecke. Die
deutschen und französischen Demokraten aber ahnen kaum, zu welchen ketzerischen
Irrlehren sich ihre vermeintlichen Glaubensgenossen in Polen bekennen, und ihre
Sympathien für dieselben beruhen zum großen Theile auf einem argen Mißver¬
ständnisse.




Wochenschau.
Dramaturgische Miseelle.

Die Leipziger Aufführung des Herrschen
Drama's: König Nerv's Tochter, veranlaßt uns zu einigen Bemerkungen. Ueber
die Fehler dieses Stückes ist die deutsche Kritik wol einig. Einmal ist die körperliche
Jnfirmität ein ungeeigneter Gegenstand für das Drama, wie das Börne bei seiner
Recension über Houwald''s „Bild" vollkommen richtig auseinandergesetzt hat. Sodann ist es
in unsrer Zeit, wo bis zu einem gewissen Umfang die medicinische Kenntniß sich über
alle Kreise verbreitet hat, unerlaubt, eine Cur bewerkstelligen zu lassen, an die Niemand,
mehr glaubt. Daß die Blindheit durch thierischen Magnetismus, durch Liebe, durch
Nachdenken und durch astrologische Amulete geheilt wird, lassen wir uns nicht mehr
einreden, am wenigsten in einem Stück, welches durchaus den Charakter des pragma¬
tischen Verstandes an sich trägt. Die ganze Anlage ist nämlich nicht aus dem Ge¬
fühl oder der Phantasie, sondern aus dem calculireudc» Verstand hervorgegangen-
Das Problem, wie eine Blinde spricht und sich benimmt, der man es sorgfältig ver¬
heimlicht hat, daß ihrer Sinnesthätigkeit etwas fehlt, kann nur durch Reflexion gelöst
werden, und reflectirt ist die ganze Art und Weise ihres Denkens und Empfindens,
die sorgfältig vor jeder Anspielung auf den Sinn des Gesichts behütet wird. Die
Ausgabe hat etwas Aehnliches mit jenem bekannten Spiel, wo man eine Geschichte
schreiben muß, in der ein bestimmter Buchstabe nicht vorkommt. — Abgesehen von
diesen Fehlern, die freilich den Keim seines Organismus treffen, ist das Stück mit
vieler Grazie und technischem Geschick ausgearbeitet und verdient schon als Gegensatz
gegen die liederlichen und willkürlichen Sudeleien/ mit denen unser Theater jetzt überschüttet
wird, eine sorgfältige Aufführung. Die Aufführung ist aber in allen Theatern, wo
wir sie gesehen haben, vergriffen. Das Stück soll einen heitern Eindruck machen; das
kann es aber nicht, wenn die Umgebungen Jolanthe's, die sich doch in funfzehn Jahre»
einigermaßen an das Unglück ihres Schützlings hätte gewöhnen können, fortwährend
heulen, ächzen, seufzen und jammern, und wenn Jolanthe selbst sich in der feierlichen
gespenstischen Weise einer Nachtwandlerin bewegt, ans deren leidenden Zügen sich ein
tiefer geheimer Schmerz ausspricht. Schon das feierliche Vorwärtsschreiten mit vorge¬
streckten Händen ist gegen die Absicht des Dichters, und selbst gegen die Natur, denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/240>, abgerufen am 25.04.2024.