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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Thibaut über Reinheit der Tonkunst.

Ein 1823 herausgegebenes Büchlein des berühmten Juristen Thibaut (geb.
177z in Hameln, 1- 4 840 als Professor der Jurisprudenz in Heidelberg) "über
Reinheit der Tonkunst" hat so eben seine dritte Auflage erlebt. Obschon manche
der Bestrebungen,, die Thibaut damals anregte, einen breitern Boden gefunden
haben, indem wenigstens die Kenntniß der classischen Kirchencompositionen des
16. und 17. Jahrhunderts eine allgemeinere geworden ist, so ist doch andererseits
die Richtung, die Thibaut bekämpfte, nicht im Mindesten abgestorben; ja es
läßt sich annehmen, daß der Verfasser des Werkes sich über die Erscheinungen
im Gebiete der Musik, die heut zu Tage die Reinheit der Tonkunst trüben, sich
noch mehr entsetzen würde, als über die unreinen Strömungen jener Zeit, die
doch eben nur mit einer gewissen Naivetät sich der Sinnlichkeit und Leidenschaft¬
lichkeit hingab, während es die Gegenwart und ihr bedeutendster Vertreter mit
Raffinement und Berechnung thut. Daß in der Entwickelung der heutigen Musik
eine Reaction zum Natürlichen, Mäßigen und Ruhigen hin nothwendig ist, wird
nachgerade immer allgemeiner gefühlt; so hat namentlich neuerdings die enthu¬
siastische Aufnahme der alten Diedersdorf'schen Opern in Berlin bewiesen, daß
auch das große, nicht reflectirende Publicum das Bedürfniß hat, zur Natur und
zur Einfachheit zurückgeführt zu werden.

Es ist bekannt, daß Thibaut eine der größten Sammlungen von alten classi¬
schen Kirchencompositionen besaß, die er mit dem höchsten Aufwande von Umsicht
und Fleiß zusammengebracht hatte. Der Gesangverein, den er in Heidelberg
leitete, soll theils durch den Ernst der Richtung, die er ihm gab, theils durch
die Sorgfältigkeit des Studirens ein wahres Muster für alle ähnliche Institute
gewesen sein. Thibaut verschmähte öffentliche Aufführungen; trotzdem hat sich der
Ruhm seiner Leistungen weit verbreitet, und so erbittert bei dem ersten Erscheinen
des Werkes "über Reinheit der Tonkunst" anch einige Fach-Musiker waren, daß
ein bloßer Dilettant es wagte, sie über Reinheit des Geschmackes zu belehren,
so ist er jetzt factisch eine Autorität.

Es ist überhaupt eine bemerkenswerthe Erscheinung, daß die bedeutendsten
Werke über Musik in der Regel von Männern geschrieben, die entweder die
Musik nur als Nebeustudium trieben oder, nachdem sie vorher studirt hatten, z"^
Musik übergingen. So rührt die bedeutendste "Aesthetik der Tonkunst" von dem
kürzlich verstorbenen und durch seine Leistungen in der Lateinischen Grammatik
berühmten Philologen Hand in Jena her; Forkel, dessen Geschichte der Tonkunst
noch heute als ein Hauptwerk gilt, hatte zwei Jahre lang die Rechte studirt;
Kiesewetter, der vor wenigen Jahren in Wien starb und als musikalischer Ge¬
schichtschreiber unter den Neueren einer der Bedeutendsten ist, war ein hochgestellter


Thibaut über Reinheit der Tonkunst.

Ein 1823 herausgegebenes Büchlein des berühmten Juristen Thibaut (geb.
177z in Hameln, 1- 4 840 als Professor der Jurisprudenz in Heidelberg) „über
Reinheit der Tonkunst" hat so eben seine dritte Auflage erlebt. Obschon manche
der Bestrebungen,, die Thibaut damals anregte, einen breitern Boden gefunden
haben, indem wenigstens die Kenntniß der classischen Kirchencompositionen des
16. und 17. Jahrhunderts eine allgemeinere geworden ist, so ist doch andererseits
die Richtung, die Thibaut bekämpfte, nicht im Mindesten abgestorben; ja es
läßt sich annehmen, daß der Verfasser des Werkes sich über die Erscheinungen
im Gebiete der Musik, die heut zu Tage die Reinheit der Tonkunst trüben, sich
noch mehr entsetzen würde, als über die unreinen Strömungen jener Zeit, die
doch eben nur mit einer gewissen Naivetät sich der Sinnlichkeit und Leidenschaft¬
lichkeit hingab, während es die Gegenwart und ihr bedeutendster Vertreter mit
Raffinement und Berechnung thut. Daß in der Entwickelung der heutigen Musik
eine Reaction zum Natürlichen, Mäßigen und Ruhigen hin nothwendig ist, wird
nachgerade immer allgemeiner gefühlt; so hat namentlich neuerdings die enthu¬
siastische Aufnahme der alten Diedersdorf'schen Opern in Berlin bewiesen, daß
auch das große, nicht reflectirende Publicum das Bedürfniß hat, zur Natur und
zur Einfachheit zurückgeführt zu werden.

Es ist bekannt, daß Thibaut eine der größten Sammlungen von alten classi¬
schen Kirchencompositionen besaß, die er mit dem höchsten Aufwande von Umsicht
und Fleiß zusammengebracht hatte. Der Gesangverein, den er in Heidelberg
leitete, soll theils durch den Ernst der Richtung, die er ihm gab, theils durch
die Sorgfältigkeit des Studirens ein wahres Muster für alle ähnliche Institute
gewesen sein. Thibaut verschmähte öffentliche Aufführungen; trotzdem hat sich der
Ruhm seiner Leistungen weit verbreitet, und so erbittert bei dem ersten Erscheinen
des Werkes „über Reinheit der Tonkunst" anch einige Fach-Musiker waren, daß
ein bloßer Dilettant es wagte, sie über Reinheit des Geschmackes zu belehren,
so ist er jetzt factisch eine Autorität.

Es ist überhaupt eine bemerkenswerthe Erscheinung, daß die bedeutendsten
Werke über Musik in der Regel von Männern geschrieben, die entweder die
Musik nur als Nebeustudium trieben oder, nachdem sie vorher studirt hatten, z"^
Musik übergingen. So rührt die bedeutendste „Aesthetik der Tonkunst" von dem
kürzlich verstorbenen und durch seine Leistungen in der Lateinischen Grammatik
berühmten Philologen Hand in Jena her; Forkel, dessen Geschichte der Tonkunst
noch heute als ein Hauptwerk gilt, hatte zwei Jahre lang die Rechte studirt;
Kiesewetter, der vor wenigen Jahren in Wien starb und als musikalischer Ge¬
schichtschreiber unter den Neueren einer der Bedeutendsten ist, war ein hochgestellter


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[0028] Thibaut über Reinheit der Tonkunst. Ein 1823 herausgegebenes Büchlein des berühmten Juristen Thibaut (geb. 177z in Hameln, 1- 4 840 als Professor der Jurisprudenz in Heidelberg) „über Reinheit der Tonkunst" hat so eben seine dritte Auflage erlebt. Obschon manche der Bestrebungen,, die Thibaut damals anregte, einen breitern Boden gefunden haben, indem wenigstens die Kenntniß der classischen Kirchencompositionen des 16. und 17. Jahrhunderts eine allgemeinere geworden ist, so ist doch andererseits die Richtung, die Thibaut bekämpfte, nicht im Mindesten abgestorben; ja es läßt sich annehmen, daß der Verfasser des Werkes sich über die Erscheinungen im Gebiete der Musik, die heut zu Tage die Reinheit der Tonkunst trüben, sich noch mehr entsetzen würde, als über die unreinen Strömungen jener Zeit, die doch eben nur mit einer gewissen Naivetät sich der Sinnlichkeit und Leidenschaft¬ lichkeit hingab, während es die Gegenwart und ihr bedeutendster Vertreter mit Raffinement und Berechnung thut. Daß in der Entwickelung der heutigen Musik eine Reaction zum Natürlichen, Mäßigen und Ruhigen hin nothwendig ist, wird nachgerade immer allgemeiner gefühlt; so hat namentlich neuerdings die enthu¬ siastische Aufnahme der alten Diedersdorf'schen Opern in Berlin bewiesen, daß auch das große, nicht reflectirende Publicum das Bedürfniß hat, zur Natur und zur Einfachheit zurückgeführt zu werden. Es ist bekannt, daß Thibaut eine der größten Sammlungen von alten classi¬ schen Kirchencompositionen besaß, die er mit dem höchsten Aufwande von Umsicht und Fleiß zusammengebracht hatte. Der Gesangverein, den er in Heidelberg leitete, soll theils durch den Ernst der Richtung, die er ihm gab, theils durch die Sorgfältigkeit des Studirens ein wahres Muster für alle ähnliche Institute gewesen sein. Thibaut verschmähte öffentliche Aufführungen; trotzdem hat sich der Ruhm seiner Leistungen weit verbreitet, und so erbittert bei dem ersten Erscheinen des Werkes „über Reinheit der Tonkunst" anch einige Fach-Musiker waren, daß ein bloßer Dilettant es wagte, sie über Reinheit des Geschmackes zu belehren, so ist er jetzt factisch eine Autorität. Es ist überhaupt eine bemerkenswerthe Erscheinung, daß die bedeutendsten Werke über Musik in der Regel von Männern geschrieben, die entweder die Musik nur als Nebeustudium trieben oder, nachdem sie vorher studirt hatten, z"^ Musik übergingen. So rührt die bedeutendste „Aesthetik der Tonkunst" von dem kürzlich verstorbenen und durch seine Leistungen in der Lateinischen Grammatik berühmten Philologen Hand in Jena her; Forkel, dessen Geschichte der Tonkunst noch heute als ein Hauptwerk gilt, hatte zwei Jahre lang die Rechte studirt; Kiesewetter, der vor wenigen Jahren in Wien starb und als musikalischer Ge¬ schichtschreiber unter den Neueren einer der Bedeutendsten ist, war ein hochgestellter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/28>, abgerufen am 28.03.2024.