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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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lich im Anfang ihres Entstehens sich nur wenig hinauswagen, oder, wenn sie es
doch thu", verunglücken, daß sie mit der Zeit kühner und kühner werden, bis sie
endlich, gleich dem einzelnen Menschen, wieder ermatte" und in ihre urspüugliche
Beschränktheit zurückkehren. Daß die heutige Musik kühnere Sprünge wagen
darf, als die des vorigen Jahrhunderts, ist vollständig in der Natur der Dinge
begründet, und kann nicht im Mindesten die Reinheit der Touhmst trüben, voraus¬
gesetzt, daß sie bei diesem Abschweifen das Gleichgewicht nicht verliert. So erscheint
das Verhältnis;, so lange wir an der Forderung festhalten, daß ein jedes Ton¬
stück in sich selbst das absolute Gleichgewicht darstelle. Wäre diese Forderung
berechtigt, so würden Compositionen, die der Kunst würdig wären, nnr in der
Ausdehnung der Grenzen verschieden sein können. Aber nun leuchtet schon ein,
daß es, je weiter die Grenzen ausgedehnt werden, um so schwieriger wird, das
absolute Gleichgewicht in einem einzigen Tonstück herzustelle", da dieses ja eben
darin besteht, daß "ach alle" möglichen Seiten hin das Excentrische lo vollstän¬
dig gleichem Grade vor und wieder zurückschreitet. Die Reinheit der Tonkunst
kann also ihren vollendeten Ausdruck nur in dem gesammten musikalischen Lebe"
finden, das Jemand führt, und es kann uicht darauf ankommen, daß wir uns keinen
Moment in entferntere und einseitigere Regionen verlieren, sondern nur darauf,
daß wir im Ganzen uicht auf Abwege gerathen. Darum muß ein Jeder mit sich
selbst zu Rathe gehen, wie weit er sich den Extremen bachantischer Lust, träumen-
scher Sentimentalität, nebelhafter Romantik, leidenschaftlicher Zerrüttung und geist¬
reicher Sonderbarkeiten überlassen darf, ohne Gefahr, daß diese Geister niedere"
Ranges den Sieg in ihm davon tragen. Ueber einzelne Werte dieser Rich¬
tung wäre, wenn sie sonst gut siud, kein Wort z" verlieren; aber das ist ein
Unglück, daß unsre Zeit sich ihr ausschließlich hingiebt.




In der Siegel beschließen die Reisenden, die nach der Schweiz kommen, um >"
möglichst kurzer Frist möglichst viel zu sehen, ihre Tour mit dem Genfer See, u"
sind zufticdeii, wenn sie sich so viel Zeit erübrigt haben, noch im Fluge die Hauy -
Städte am See, die nun einmal im Rufe sind, durchlaufen zu haben. Ich muß gestehn>-
daß ich den Geschmack Derjenigen bewundere, die unersättlich im Erklimmen nackter
Felsen, unermüdlich im Aussuchen von Schnee und Eis, es über sich gewinnen können,
an dem reizendsten Bilde, wie im Fluge, kalten Blickes vorüber zu eilen. Ich ^""^
daß es manchem der Leser nicht unangenehm sein wird, mich aus einer kleinen -P
menade zu begleiten, die mir zu den angenehmsten zu gehören scheint, deren in
sich hier am Genfer See erfreuen kann, ich meine die nach dem Signal de Bougy-a

Um nach Bougy zu gelangen, hat man zum größten Theile der großen Landstr^
von Lausanne nach Genf zu folgen, ein Weg, der dadurch viel an seiner sonstigen "


lich im Anfang ihres Entstehens sich nur wenig hinauswagen, oder, wenn sie es
doch thu», verunglücken, daß sie mit der Zeit kühner und kühner werden, bis sie
endlich, gleich dem einzelnen Menschen, wieder ermatte» und in ihre urspüugliche
Beschränktheit zurückkehren. Daß die heutige Musik kühnere Sprünge wagen
darf, als die des vorigen Jahrhunderts, ist vollständig in der Natur der Dinge
begründet, und kann nicht im Mindesten die Reinheit der Touhmst trüben, voraus¬
gesetzt, daß sie bei diesem Abschweifen das Gleichgewicht nicht verliert. So erscheint
das Verhältnis;, so lange wir an der Forderung festhalten, daß ein jedes Ton¬
stück in sich selbst das absolute Gleichgewicht darstelle. Wäre diese Forderung
berechtigt, so würden Compositionen, die der Kunst würdig wären, nnr in der
Ausdehnung der Grenzen verschieden sein können. Aber nun leuchtet schon ein,
daß es, je weiter die Grenzen ausgedehnt werden, um so schwieriger wird, das
absolute Gleichgewicht in einem einzigen Tonstück herzustelle», da dieses ja eben
darin besteht, daß »ach alle» möglichen Seiten hin das Excentrische lo vollstän¬
dig gleichem Grade vor und wieder zurückschreitet. Die Reinheit der Tonkunst
kann also ihren vollendeten Ausdruck nur in dem gesammten musikalischen Lebe»
finden, das Jemand führt, und es kann uicht darauf ankommen, daß wir uns keinen
Moment in entferntere und einseitigere Regionen verlieren, sondern nur darauf,
daß wir im Ganzen uicht auf Abwege gerathen. Darum muß ein Jeder mit sich
selbst zu Rathe gehen, wie weit er sich den Extremen bachantischer Lust, träumen-
scher Sentimentalität, nebelhafter Romantik, leidenschaftlicher Zerrüttung und geist¬
reicher Sonderbarkeiten überlassen darf, ohne Gefahr, daß diese Geister niedere»
Ranges den Sieg in ihm davon tragen. Ueber einzelne Werte dieser Rich¬
tung wäre, wenn sie sonst gut siud, kein Wort z» verlieren; aber das ist ein
Unglück, daß unsre Zeit sich ihr ausschließlich hingiebt.




In der Siegel beschließen die Reisenden, die nach der Schweiz kommen, um >"
möglichst kurzer Frist möglichst viel zu sehen, ihre Tour mit dem Genfer See, u»
sind zufticdeii, wenn sie sich so viel Zeit erübrigt haben, noch im Fluge die Hauy -
Städte am See, die nun einmal im Rufe sind, durchlaufen zu haben. Ich muß gestehn>-
daß ich den Geschmack Derjenigen bewundere, die unersättlich im Erklimmen nackter
Felsen, unermüdlich im Aussuchen von Schnee und Eis, es über sich gewinnen können,
an dem reizendsten Bilde, wie im Fluge, kalten Blickes vorüber zu eilen. Ich ^""^
daß es manchem der Leser nicht unangenehm sein wird, mich aus einer kleinen -P
menade zu begleiten, die mir zu den angenehmsten zu gehören scheint, deren in
sich hier am Genfer See erfreuen kann, ich meine die nach dem Signal de Bougy-a

Um nach Bougy zu gelangen, hat man zum größten Theile der großen Landstr^
von Lausanne nach Genf zu folgen, ein Weg, der dadurch viel an seiner sonstigen "


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[0032] lich im Anfang ihres Entstehens sich nur wenig hinauswagen, oder, wenn sie es doch thu», verunglücken, daß sie mit der Zeit kühner und kühner werden, bis sie endlich, gleich dem einzelnen Menschen, wieder ermatte» und in ihre urspüugliche Beschränktheit zurückkehren. Daß die heutige Musik kühnere Sprünge wagen darf, als die des vorigen Jahrhunderts, ist vollständig in der Natur der Dinge begründet, und kann nicht im Mindesten die Reinheit der Touhmst trüben, voraus¬ gesetzt, daß sie bei diesem Abschweifen das Gleichgewicht nicht verliert. So erscheint das Verhältnis;, so lange wir an der Forderung festhalten, daß ein jedes Ton¬ stück in sich selbst das absolute Gleichgewicht darstelle. Wäre diese Forderung berechtigt, so würden Compositionen, die der Kunst würdig wären, nnr in der Ausdehnung der Grenzen verschieden sein können. Aber nun leuchtet schon ein, daß es, je weiter die Grenzen ausgedehnt werden, um so schwieriger wird, das absolute Gleichgewicht in einem einzigen Tonstück herzustelle», da dieses ja eben darin besteht, daß »ach alle» möglichen Seiten hin das Excentrische lo vollstän¬ dig gleichem Grade vor und wieder zurückschreitet. Die Reinheit der Tonkunst kann also ihren vollendeten Ausdruck nur in dem gesammten musikalischen Lebe» finden, das Jemand führt, und es kann uicht darauf ankommen, daß wir uns keinen Moment in entferntere und einseitigere Regionen verlieren, sondern nur darauf, daß wir im Ganzen uicht auf Abwege gerathen. Darum muß ein Jeder mit sich selbst zu Rathe gehen, wie weit er sich den Extremen bachantischer Lust, träumen- scher Sentimentalität, nebelhafter Romantik, leidenschaftlicher Zerrüttung und geist¬ reicher Sonderbarkeiten überlassen darf, ohne Gefahr, daß diese Geister niedere» Ranges den Sieg in ihm davon tragen. Ueber einzelne Werte dieser Rich¬ tung wäre, wenn sie sonst gut siud, kein Wort z» verlieren; aber das ist ein Unglück, daß unsre Zeit sich ihr ausschließlich hingiebt. In der Siegel beschließen die Reisenden, die nach der Schweiz kommen, um >" möglichst kurzer Frist möglichst viel zu sehen, ihre Tour mit dem Genfer See, u» sind zufticdeii, wenn sie sich so viel Zeit erübrigt haben, noch im Fluge die Hauy - Städte am See, die nun einmal im Rufe sind, durchlaufen zu haben. Ich muß gestehn>- daß ich den Geschmack Derjenigen bewundere, die unersättlich im Erklimmen nackter Felsen, unermüdlich im Aussuchen von Schnee und Eis, es über sich gewinnen können, an dem reizendsten Bilde, wie im Fluge, kalten Blickes vorüber zu eilen. Ich ^""^ daß es manchem der Leser nicht unangenehm sein wird, mich aus einer kleinen -P menade zu begleiten, die mir zu den angenehmsten zu gehören scheint, deren in sich hier am Genfer See erfreuen kann, ich meine die nach dem Signal de Bougy-a Um nach Bougy zu gelangen, hat man zum größten Theile der großen Landstr^ von Lausanne nach Genf zu folgen, ein Weg, der dadurch viel an seiner sonstigen "

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/32>, abgerufen am 25.04.2024.