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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Henry Taylor, der neueste englische Dramatiker.

Taylor ist gegenwärtig von der englischen Kritik als der erste dramatische
Dichter anerkannt; wir können daher an ihm am bequemsten das Wesen des
englischen Drama'S verfolgen. Er hat sich zwar anch im Lyrischen versucht, und
einzelne Gedichte, z. B. das Sonnett über das Verschwinden des lustigen Eng¬
land, haben viel Anklang gesunden. Allein in diesen Gedichten ist nichts, was
ihn von den übrigen englischen Lyrikern wesentlich unterscheidet. Zu bemerken ist,
daß er die Lyrik, namentlich die alterthümlichen Balladen, auf eine ungehörige
Weise in seine Tragödien einmischt. .

Die Engländer haben sich von der frühesten,Zeit ein' mehr im scharfen de-
taillirten Charakterisieren der Personen, als im Erfinden einer spannenden und in
sich zusammenhängenden Handlung ausgezeichnet. Ihr Produciren ist gewöhnlich
von der Art, daß ihnen zuerst ein eigenthümlicher Charakter in seinen verschiedenen
Wendungen aufgeht, und daß sie dann die diesem Charakter entsprechenden Si¬
tuationen dazu erfinden. Für die dramatische Kunst ist das nicht günstig, denn
es wird dadurch jenes Fragmentarische und Episodische in dem Verlauf des Stücks
herbeigeführt, welches zuletzt auch anf die Charaktere übergeht, denn diese ver¬
lieren sich so ins Detail, daß man über ihren Grundton nicht ins Klare kommt.
Nur eine so gigantische Kraft wie Shakspeare konnte durch die Macht seiner Lei¬
denschaft, die mich eine chaotische Verwickelung von Handlungen und ein Gemisch
von unklaren Motiven zu überwältigen wußte, diesen Uebelstand beseitigen.
Seine Lustspiele fallen daher zum Theil eben so aus einander, wie die seiner Zeit¬
genossen und Nachfolger. In Stücken wie z. B. den luftigen Weibern von
Windsor haben wir einen großen Reichthum drolliger Situationen und drolliger
Figuren, aber die Handlung kommt uicht vorwärts. Die einzelnen Scenen sind
At der größten Willkür durch einander geworfen, und jede derselben hat den
Charakter des Episodischen.

In neuester Zeit wird dieser Uebelstand noch dadurch vermehrt, daß man
steh darau gewohnt hat, überall die Reflexion über die natürliche Empfindung
vorherrschen zu lassen. Bis gegen das Ende des vorigen Juhrhunderts hin war


Grcnzl'oder, IV. i8til, ö(Z
Henry Taylor, der neueste englische Dramatiker.

Taylor ist gegenwärtig von der englischen Kritik als der erste dramatische
Dichter anerkannt; wir können daher an ihm am bequemsten das Wesen des
englischen Drama'S verfolgen. Er hat sich zwar anch im Lyrischen versucht, und
einzelne Gedichte, z. B. das Sonnett über das Verschwinden des lustigen Eng¬
land, haben viel Anklang gesunden. Allein in diesen Gedichten ist nichts, was
ihn von den übrigen englischen Lyrikern wesentlich unterscheidet. Zu bemerken ist,
daß er die Lyrik, namentlich die alterthümlichen Balladen, auf eine ungehörige
Weise in seine Tragödien einmischt. .

Die Engländer haben sich von der frühesten,Zeit ein' mehr im scharfen de-
taillirten Charakterisieren der Personen, als im Erfinden einer spannenden und in
sich zusammenhängenden Handlung ausgezeichnet. Ihr Produciren ist gewöhnlich
von der Art, daß ihnen zuerst ein eigenthümlicher Charakter in seinen verschiedenen
Wendungen aufgeht, und daß sie dann die diesem Charakter entsprechenden Si¬
tuationen dazu erfinden. Für die dramatische Kunst ist das nicht günstig, denn
es wird dadurch jenes Fragmentarische und Episodische in dem Verlauf des Stücks
herbeigeführt, welches zuletzt auch anf die Charaktere übergeht, denn diese ver¬
lieren sich so ins Detail, daß man über ihren Grundton nicht ins Klare kommt.
Nur eine so gigantische Kraft wie Shakspeare konnte durch die Macht seiner Lei¬
denschaft, die mich eine chaotische Verwickelung von Handlungen und ein Gemisch
von unklaren Motiven zu überwältigen wußte, diesen Uebelstand beseitigen.
Seine Lustspiele fallen daher zum Theil eben so aus einander, wie die seiner Zeit¬
genossen und Nachfolger. In Stücken wie z. B. den luftigen Weibern von
Windsor haben wir einen großen Reichthum drolliger Situationen und drolliger
Figuren, aber die Handlung kommt uicht vorwärts. Die einzelnen Scenen sind
At der größten Willkür durch einander geworfen, und jede derselben hat den
Charakter des Episodischen.

In neuester Zeit wird dieser Uebelstand noch dadurch vermehrt, daß man
steh darau gewohnt hat, überall die Reflexion über die natürliche Empfindung
vorherrschen zu lassen. Bis gegen das Ende des vorigen Juhrhunderts hin war


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[0445] Henry Taylor, der neueste englische Dramatiker. Taylor ist gegenwärtig von der englischen Kritik als der erste dramatische Dichter anerkannt; wir können daher an ihm am bequemsten das Wesen des englischen Drama'S verfolgen. Er hat sich zwar anch im Lyrischen versucht, und einzelne Gedichte, z. B. das Sonnett über das Verschwinden des lustigen Eng¬ land, haben viel Anklang gesunden. Allein in diesen Gedichten ist nichts, was ihn von den übrigen englischen Lyrikern wesentlich unterscheidet. Zu bemerken ist, daß er die Lyrik, namentlich die alterthümlichen Balladen, auf eine ungehörige Weise in seine Tragödien einmischt. . Die Engländer haben sich von der frühesten,Zeit ein' mehr im scharfen de- taillirten Charakterisieren der Personen, als im Erfinden einer spannenden und in sich zusammenhängenden Handlung ausgezeichnet. Ihr Produciren ist gewöhnlich von der Art, daß ihnen zuerst ein eigenthümlicher Charakter in seinen verschiedenen Wendungen aufgeht, und daß sie dann die diesem Charakter entsprechenden Si¬ tuationen dazu erfinden. Für die dramatische Kunst ist das nicht günstig, denn es wird dadurch jenes Fragmentarische und Episodische in dem Verlauf des Stücks herbeigeführt, welches zuletzt auch anf die Charaktere übergeht, denn diese ver¬ lieren sich so ins Detail, daß man über ihren Grundton nicht ins Klare kommt. Nur eine so gigantische Kraft wie Shakspeare konnte durch die Macht seiner Lei¬ denschaft, die mich eine chaotische Verwickelung von Handlungen und ein Gemisch von unklaren Motiven zu überwältigen wußte, diesen Uebelstand beseitigen. Seine Lustspiele fallen daher zum Theil eben so aus einander, wie die seiner Zeit¬ genossen und Nachfolger. In Stücken wie z. B. den luftigen Weibern von Windsor haben wir einen großen Reichthum drolliger Situationen und drolliger Figuren, aber die Handlung kommt uicht vorwärts. Die einzelnen Scenen sind At der größten Willkür durch einander geworfen, und jede derselben hat den Charakter des Episodischen. In neuester Zeit wird dieser Uebelstand noch dadurch vermehrt, daß man steh darau gewohnt hat, überall die Reflexion über die natürliche Empfindung vorherrschen zu lassen. Bis gegen das Ende des vorigen Juhrhunderts hin war Grcnzl'oder, IV. i8til, ö(Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/445>, abgerufen am 19.04.2024.