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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Englische Literatur.
Lord Byron.

Wenn man von irgendeinem modernen Dichter sagen kann, daß er alle Kraft,
Ale Schwäche und alle Verirrung seines Zeitalters repräsentirt, so ist es Byron.
Die kurze Zeit, in welcher er wie ein Meteor an unsrem Himmel vorüberbrauste,
von den ersten Gesängen seines Childe Harold, Ins, bis zu seinem Tode, 1"24,
waren die Blicke von'ganz Europa auf ihn gerichtet. Seine Dichtung und noch
'"ehr sein Leben war Gegenstand der lebhaftesten Theilnahme, der Begeisterung
oder des Abscheues, und der Einfluß seiner poetischen Richtung erstreckt sich Ins
tief in unsre Tage hinein. Lord Byron war der Manu, wie ihn sich die vorher¬
gehende Zeit in ihrem Dichten und Denken geträumt hatte, namentlich un,re
Deutsche Poesie: auf deu Höhen des Lebens geboren, und doch voller Begeiste-
U"'g für die Freiheit; ein Bezauberer aller Herzen, und doch mit unglücklichem
Streben fortwährend einem beständig schwindenden Ideale nacheilend; skeptisch
bis "ur Blasirtheit und bis zum übermüthigen Hohn, und doch voller Sehnsucht
"ach den Heiligthümern, welche die Menschheit eingebüßt.

Nachdem man in den Zeiten der Aufklärung die Individualität den allge-
meinen Ideen und Abstractionen geopfert hatte, erhob sich als Reaction Mer
Cultus der Persönlichkeiten, dem das Allgemeine, soweit es nicht einen sichectiven
Ausdruck fand, vollkommen gleichgiltig war; es bildete sich der Mythus von Don
Juan und Faust, den aber seine Erfinder, die Deutschen, niemals bis zur voll¬
en Energie ausbilde" konnten, weil sie vou kleinen und verkümmerten Verhalt¬
en ausgingen, und weil ihre Perspectiven, so weit sie sich anch ausdehnten,
nur aus der Ahnung des Herzens genommen waren, uicht aus dem Eindruck
wirklichen Lebens. Die Werther, die Allwill, die Titan mochten unt ihren
Ketten rasseln, so viel sie wollten, sie konnte" sie nicht abwerfen: es war die Ar-
""'es des äußern Lebens, die ihren Flug hemmte. Jean Paul hat seinen Titan
das höchste Ideal luuaufgetriebcu, das er zu coucipiren im Stande war, er
bat ihn zu einem Deutschen Reichsfürsten gemacht. Was war damit gewonnen?
G


renzboten. IV. 18lit. 6
Englische Literatur.
Lord Byron.

Wenn man von irgendeinem modernen Dichter sagen kann, daß er alle Kraft,
Ale Schwäche und alle Verirrung seines Zeitalters repräsentirt, so ist es Byron.
Die kurze Zeit, in welcher er wie ein Meteor an unsrem Himmel vorüberbrauste,
von den ersten Gesängen seines Childe Harold, Ins, bis zu seinem Tode, 1»24,
waren die Blicke von'ganz Europa auf ihn gerichtet. Seine Dichtung und noch
'»ehr sein Leben war Gegenstand der lebhaftesten Theilnahme, der Begeisterung
oder des Abscheues, und der Einfluß seiner poetischen Richtung erstreckt sich Ins
tief in unsre Tage hinein. Lord Byron war der Manu, wie ihn sich die vorher¬
gehende Zeit in ihrem Dichten und Denken geträumt hatte, namentlich un,re
Deutsche Poesie: auf deu Höhen des Lebens geboren, und doch voller Begeiste-
U"'g für die Freiheit; ein Bezauberer aller Herzen, und doch mit unglücklichem
Streben fortwährend einem beständig schwindenden Ideale nacheilend; skeptisch
bis »ur Blasirtheit und bis zum übermüthigen Hohn, und doch voller Sehnsucht
«ach den Heiligthümern, welche die Menschheit eingebüßt.

Nachdem man in den Zeiten der Aufklärung die Individualität den allge-
meinen Ideen und Abstractionen geopfert hatte, erhob sich als Reaction Mer
Cultus der Persönlichkeiten, dem das Allgemeine, soweit es nicht einen sichectiven
Ausdruck fand, vollkommen gleichgiltig war; es bildete sich der Mythus von Don
Juan und Faust, den aber seine Erfinder, die Deutschen, niemals bis zur voll¬
en Energie ausbilde» konnten, weil sie vou kleinen und verkümmerten Verhalt¬
en ausgingen, und weil ihre Perspectiven, so weit sie sich anch ausdehnten,
nur aus der Ahnung des Herzens genommen waren, uicht aus dem Eindruck
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das höchste Ideal luuaufgetriebcu, das er zu coucipiren im Stande war, er
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renzboten. IV. 18lit. 6
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[0045] Englische Literatur. Lord Byron. Wenn man von irgendeinem modernen Dichter sagen kann, daß er alle Kraft, Ale Schwäche und alle Verirrung seines Zeitalters repräsentirt, so ist es Byron. Die kurze Zeit, in welcher er wie ein Meteor an unsrem Himmel vorüberbrauste, von den ersten Gesängen seines Childe Harold, Ins, bis zu seinem Tode, 1»24, waren die Blicke von'ganz Europa auf ihn gerichtet. Seine Dichtung und noch '»ehr sein Leben war Gegenstand der lebhaftesten Theilnahme, der Begeisterung oder des Abscheues, und der Einfluß seiner poetischen Richtung erstreckt sich Ins tief in unsre Tage hinein. Lord Byron war der Manu, wie ihn sich die vorher¬ gehende Zeit in ihrem Dichten und Denken geträumt hatte, namentlich un,re Deutsche Poesie: auf deu Höhen des Lebens geboren, und doch voller Begeiste- U"'g für die Freiheit; ein Bezauberer aller Herzen, und doch mit unglücklichem Streben fortwährend einem beständig schwindenden Ideale nacheilend; skeptisch bis »ur Blasirtheit und bis zum übermüthigen Hohn, und doch voller Sehnsucht «ach den Heiligthümern, welche die Menschheit eingebüßt. Nachdem man in den Zeiten der Aufklärung die Individualität den allge- meinen Ideen und Abstractionen geopfert hatte, erhob sich als Reaction Mer Cultus der Persönlichkeiten, dem das Allgemeine, soweit es nicht einen sichectiven Ausdruck fand, vollkommen gleichgiltig war; es bildete sich der Mythus von Don Juan und Faust, den aber seine Erfinder, die Deutschen, niemals bis zur voll¬ en Energie ausbilde» konnten, weil sie vou kleinen und verkümmerten Verhalt¬ en ausgingen, und weil ihre Perspectiven, so weit sie sich anch ausdehnten, nur aus der Ahnung des Herzens genommen waren, uicht aus dem Eindruck wirklichen Lebens. Die Werther, die Allwill, die Titan mochten unt ihren Ketten rasseln, so viel sie wollten, sie konnte» sie nicht abwerfen: es war die Ar- ""'es des äußern Lebens, die ihren Flug hemmte. Jean Paul hat seinen Titan das höchste Ideal luuaufgetriebcu, das er zu coucipiren im Stande war, er bat ihn zu einem Deutschen Reichsfürsten gemacht. Was war damit gewonnen? G renzboten. IV. 18lit. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/45>, abgerufen am 26.04.2024.