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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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des Andern, in Wirklichkeit aber, weil so ihre gegenseitige Unwissenheit verzeihlich
wird und nicht überraschend wirkt.

Ein solcher Talisman ist die Specialität! Man ist vergebens Arzt, Advocat,
Künstler, Dichter, Journalist, das Alles bedeutet heute gar nichts; will man in
Paris auf einen grünen Zweig kommen, dann muß man eine Specialität haben.
Talghändler, Zuckerfabrikantcn, Banquiers, Börsenagenten, Rentiers, Diplomaten,
Minister und Engländer brauchen keine besondere Specialität, weil sie die gesuch¬
testen sind, und bei Professoren wird sie vorausgesetzt. Unter diesen giebt es
freilich Manche, deren Specialität es eben ist, keine zu haben.

Nun denke man sich die Wirthschaft in den Salons, in denen die Speciali¬
täten herumschwärmen, wie die Infusorien in einem Glase Wasser. Oftmals be¬
dürfte man auch hier eines Mikroskops, um die eigentliche Specialität herauszu-
finden. Diese Menschen gemahnen an die Auslcgekasten vor unsren Weinhand¬
lungen, in denen die Etiquetten aus den leeren Flaschen uns den Inhalt anzeigen,
von dem sie erfüllt sein konnten.

Da wird nun durch einander gesprochen, alle Interessen des Tages, alle
Fragen der Zeit, die Fortschritte der Kunst und Wissenschaft, die neuesten Erschei¬
nungen der Literatur im Fluge berührt; man ruft wie Cäsar veri, vieil, vian.
geht uach einer halben Stunde wieder in einen andern Salon, um daselbst wieder
die weiße Cravate und die weißen Handschuhe brilliren zu lassen, und wenn man
dieses Märtyrerthum einige Male an einem Abende durchgemacht, kehrt man nach
Hause, wartet eine Viertelstunde, bis der Concierge unser Einlaßgesuch erhört,
und sagt sich, die Treppen hinausgehend, seufzend: das war eine ^ü-vo "bien
KMpIo^vo.




Luxus und Schönheit im modernen Leben.
Moderne Wohnhäuser in Berlin.

Wer noch vor zehn oder zwanzig Jahren aus den alten Städten des so¬
genannten Reiches in die modernen Hauptstädte des nördlichen Deutschlands,
namentlich nach Berlin, herabkam, erschrak fast über die Leere der breiten, gera¬
den, langen, schmucklosen Straßen, welche in den neuere" Theilen dem Auge
begegnete. Es war, als ob die Einförmigkeit der CommiSjackc sich auch auf die
Häuser der preußischen Hauptstadt erstreckt habe, als ob auch diese steif und leblos
nach Kommando in Reih und Glied aufmarschirt seie". Im Berliner Privatbau
herrschte damals eine Gewöhnlichkeit, ja eine Trivialität des Aeußern, welche
kaum durch die Unbehaglichkeit des Innern übertroffen ward. Die meisten Wohn¬
häuser wurden von Maurerpolirern aufgerichtet: kahle Wände ohne Simse, außer


des Andern, in Wirklichkeit aber, weil so ihre gegenseitige Unwissenheit verzeihlich
wird und nicht überraschend wirkt.

Ein solcher Talisman ist die Specialität! Man ist vergebens Arzt, Advocat,
Künstler, Dichter, Journalist, das Alles bedeutet heute gar nichts; will man in
Paris auf einen grünen Zweig kommen, dann muß man eine Specialität haben.
Talghändler, Zuckerfabrikantcn, Banquiers, Börsenagenten, Rentiers, Diplomaten,
Minister und Engländer brauchen keine besondere Specialität, weil sie die gesuch¬
testen sind, und bei Professoren wird sie vorausgesetzt. Unter diesen giebt es
freilich Manche, deren Specialität es eben ist, keine zu haben.

Nun denke man sich die Wirthschaft in den Salons, in denen die Speciali¬
täten herumschwärmen, wie die Infusorien in einem Glase Wasser. Oftmals be¬
dürfte man auch hier eines Mikroskops, um die eigentliche Specialität herauszu-
finden. Diese Menschen gemahnen an die Auslcgekasten vor unsren Weinhand¬
lungen, in denen die Etiquetten aus den leeren Flaschen uns den Inhalt anzeigen,
von dem sie erfüllt sein konnten.

Da wird nun durch einander gesprochen, alle Interessen des Tages, alle
Fragen der Zeit, die Fortschritte der Kunst und Wissenschaft, die neuesten Erschei¬
nungen der Literatur im Fluge berührt; man ruft wie Cäsar veri, vieil, vian.
geht uach einer halben Stunde wieder in einen andern Salon, um daselbst wieder
die weiße Cravate und die weißen Handschuhe brilliren zu lassen, und wenn man
dieses Märtyrerthum einige Male an einem Abende durchgemacht, kehrt man nach
Hause, wartet eine Viertelstunde, bis der Concierge unser Einlaßgesuch erhört,
und sagt sich, die Treppen hinausgehend, seufzend: das war eine ^ü-vo "bien
KMpIo^vo.




Luxus und Schönheit im modernen Leben.
Moderne Wohnhäuser in Berlin.

Wer noch vor zehn oder zwanzig Jahren aus den alten Städten des so¬
genannten Reiches in die modernen Hauptstädte des nördlichen Deutschlands,
namentlich nach Berlin, herabkam, erschrak fast über die Leere der breiten, gera¬
den, langen, schmucklosen Straßen, welche in den neuere» Theilen dem Auge
begegnete. Es war, als ob die Einförmigkeit der CommiSjackc sich auch auf die
Häuser der preußischen Hauptstadt erstreckt habe, als ob auch diese steif und leblos
nach Kommando in Reih und Glied aufmarschirt seie». Im Berliner Privatbau
herrschte damals eine Gewöhnlichkeit, ja eine Trivialität des Aeußern, welche
kaum durch die Unbehaglichkeit des Innern übertroffen ward. Die meisten Wohn¬
häuser wurden von Maurerpolirern aufgerichtet: kahle Wände ohne Simse, außer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/467>, abgerufen am 20.04.2024.