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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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täuschte Hoffnungen, polizeiliche Verfolgungen, falsche Diplomaten, treulose apathische
Parteigenossen haben wir in der Wirklichkeit genug und übergenug; wenn Ihr das
deutsche Volk wirklich erheben wollt, so gebt ihm heitre Bilder, Ihr deutschen Dichter! --
Der "Bauernfürst" spielt in der Zeit der französischen Revolution. Sein Eindruck ist
ein heiterer und er versteht zu gleicher Zeit das Interesse zu spannen. Herr Schücking
weiß sehr gut zu erzählen und hat ein glückliches Auge für mannigfaltige Gestaltungen
und Nuancen; aber er hat den Fehler, den er mit den meisten unserer jüngern Novelli¬
sten theilt, daß er zu unruhig in seinen Erzählungen ist. Wenn es uns ansaugt bei eiuer
Figur wohl zu werden, so eilt er rasch darüber hinweg zu einer andern. Fast überall
werden wir zuerst durch ein heiteres, sprechendes und glücklich angelegtes Gemälde an¬
gezogen, aber im weitern Verlauf werden die Umrisse unbestimmt, und wir vergessen
unsern eignen Eindruck wieder. , In dieser Beziehung können uns immer noch die eng¬
lischen Novellisten als Muster dienen.

Von zwei Damenromanen:


Josephine. Eine Novelle aus unsern Tagen, von Franzisca Gräfin Schwerin, Leip¬
zig, I., I- Weber, und .
Erdenglück. Von der Verfasserin der "Ernster Stunden." Zwei Bände, Berlin,
Herrmann Schnitze.

ist wenig mehr zu sagen, als daß sie wol ausschließlich sür Damen geschrieben sind.
Sie sind im Uebrigen moralisch und verständig gehalten. Der erste verdient den Vor¬
zug. Die Dichterin hat unter Andern? die sür eine Dame sehr seltene und anerkennens-
werthe Kühnheit gehabt, ihre Heldin gleich im vierunddreißigsten Jahre auftreten zu
lassen.

Ziemlich vortheilhaft sticht doch gegen diese mehr oder minder anerkennenswerther
einheimischen Producte ein fremder Gast ab:


David Copperfield. Von Charles Dickens. Fünf Bände, Leipzig, I. I. Weber.

Da wir über dieses Werk und über Dickens im Allgemeinen uns bereits hinläng¬
lich ausgesprochen haben, so beschränken wir uns auf einige Bemerkungen in Beziehung
aus die Übersetzung. Eine der größten Schwierigkeiten sür den Uebersetzer von Dickens
ist das corrumpirte Englisch, welches er seine niedern Stände sprechen läßt, und das sich
im Original komisch genug ausmacht, im Deutschen aber, wenn man es durch ein corrum-
pirtes Deutsch, oder gar durch einen bestimmten deutschen Dialekt, oder noch schlimmer
durch den Berliner oder Leipziger Dialekt, oder am allerschlimmsten durch ein Gemisch
aus Berlinerisch und Leipzigerisch wiederzugeben sucht, einen höchst unangenehmen und
häßlichen Eindruck hervorbringt. Nach unsrer Ueberzeugung soll sich der Uebersetzer auch
in diesen Stellen im Hochdeutschen halten und deu Unterschied der Bildung nur durch
einfachere Sprach- und Satzsormen ausdrücken. Nur bei entschieden komischen Stellen
wird eine Verwechslung von "mir" und "mich", "Gott und "Jott" und dergleichen zu
ertragen sein, und auch dann kaum; wenn aber der alte Fischer Pcggotty im Augen¬
blick des höchsten Jammers, wo sein Kind ihm geraubt ist und er sich zum reinsten Pa¬
thos des Schmerzes erhebt, mir und mich verwechselt, so ist das geradezu unaus¬
stehlich.


täuschte Hoffnungen, polizeiliche Verfolgungen, falsche Diplomaten, treulose apathische
Parteigenossen haben wir in der Wirklichkeit genug und übergenug; wenn Ihr das
deutsche Volk wirklich erheben wollt, so gebt ihm heitre Bilder, Ihr deutschen Dichter! —
Der „Bauernfürst" spielt in der Zeit der französischen Revolution. Sein Eindruck ist
ein heiterer und er versteht zu gleicher Zeit das Interesse zu spannen. Herr Schücking
weiß sehr gut zu erzählen und hat ein glückliches Auge für mannigfaltige Gestaltungen
und Nuancen; aber er hat den Fehler, den er mit den meisten unserer jüngern Novelli¬
sten theilt, daß er zu unruhig in seinen Erzählungen ist. Wenn es uns ansaugt bei eiuer
Figur wohl zu werden, so eilt er rasch darüber hinweg zu einer andern. Fast überall
werden wir zuerst durch ein heiteres, sprechendes und glücklich angelegtes Gemälde an¬
gezogen, aber im weitern Verlauf werden die Umrisse unbestimmt, und wir vergessen
unsern eignen Eindruck wieder. , In dieser Beziehung können uns immer noch die eng¬
lischen Novellisten als Muster dienen.

Von zwei Damenromanen:


Josephine. Eine Novelle aus unsern Tagen, von Franzisca Gräfin Schwerin, Leip¬
zig, I., I- Weber, und .
Erdenglück. Von der Verfasserin der „Ernster Stunden." Zwei Bände, Berlin,
Herrmann Schnitze.

ist wenig mehr zu sagen, als daß sie wol ausschließlich sür Damen geschrieben sind.
Sie sind im Uebrigen moralisch und verständig gehalten. Der erste verdient den Vor¬
zug. Die Dichterin hat unter Andern? die sür eine Dame sehr seltene und anerkennens-
werthe Kühnheit gehabt, ihre Heldin gleich im vierunddreißigsten Jahre auftreten zu
lassen.

Ziemlich vortheilhaft sticht doch gegen diese mehr oder minder anerkennenswerther
einheimischen Producte ein fremder Gast ab:


David Copperfield. Von Charles Dickens. Fünf Bände, Leipzig, I. I. Weber.

Da wir über dieses Werk und über Dickens im Allgemeinen uns bereits hinläng¬
lich ausgesprochen haben, so beschränken wir uns auf einige Bemerkungen in Beziehung
aus die Übersetzung. Eine der größten Schwierigkeiten sür den Uebersetzer von Dickens
ist das corrumpirte Englisch, welches er seine niedern Stände sprechen läßt, und das sich
im Original komisch genug ausmacht, im Deutschen aber, wenn man es durch ein corrum-
pirtes Deutsch, oder gar durch einen bestimmten deutschen Dialekt, oder noch schlimmer
durch den Berliner oder Leipziger Dialekt, oder am allerschlimmsten durch ein Gemisch
aus Berlinerisch und Leipzigerisch wiederzugeben sucht, einen höchst unangenehmen und
häßlichen Eindruck hervorbringt. Nach unsrer Ueberzeugung soll sich der Uebersetzer auch
in diesen Stellen im Hochdeutschen halten und deu Unterschied der Bildung nur durch
einfachere Sprach- und Satzsormen ausdrücken. Nur bei entschieden komischen Stellen
wird eine Verwechslung von „mir" und „mich", „Gott und „Jott" und dergleichen zu
ertragen sein, und auch dann kaum; wenn aber der alte Fischer Pcggotty im Augen¬
blick des höchsten Jammers, wo sein Kind ihm geraubt ist und er sich zum reinsten Pa¬
thos des Schmerzes erhebt, mir und mich verwechselt, so ist das geradezu unaus¬
stehlich.


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[0129] täuschte Hoffnungen, polizeiliche Verfolgungen, falsche Diplomaten, treulose apathische Parteigenossen haben wir in der Wirklichkeit genug und übergenug; wenn Ihr das deutsche Volk wirklich erheben wollt, so gebt ihm heitre Bilder, Ihr deutschen Dichter! — Der „Bauernfürst" spielt in der Zeit der französischen Revolution. Sein Eindruck ist ein heiterer und er versteht zu gleicher Zeit das Interesse zu spannen. Herr Schücking weiß sehr gut zu erzählen und hat ein glückliches Auge für mannigfaltige Gestaltungen und Nuancen; aber er hat den Fehler, den er mit den meisten unserer jüngern Novelli¬ sten theilt, daß er zu unruhig in seinen Erzählungen ist. Wenn es uns ansaugt bei eiuer Figur wohl zu werden, so eilt er rasch darüber hinweg zu einer andern. Fast überall werden wir zuerst durch ein heiteres, sprechendes und glücklich angelegtes Gemälde an¬ gezogen, aber im weitern Verlauf werden die Umrisse unbestimmt, und wir vergessen unsern eignen Eindruck wieder. , In dieser Beziehung können uns immer noch die eng¬ lischen Novellisten als Muster dienen. Von zwei Damenromanen: Josephine. Eine Novelle aus unsern Tagen, von Franzisca Gräfin Schwerin, Leip¬ zig, I., I- Weber, und . Erdenglück. Von der Verfasserin der „Ernster Stunden." Zwei Bände, Berlin, Herrmann Schnitze. ist wenig mehr zu sagen, als daß sie wol ausschließlich sür Damen geschrieben sind. Sie sind im Uebrigen moralisch und verständig gehalten. Der erste verdient den Vor¬ zug. Die Dichterin hat unter Andern? die sür eine Dame sehr seltene und anerkennens- werthe Kühnheit gehabt, ihre Heldin gleich im vierunddreißigsten Jahre auftreten zu lassen. Ziemlich vortheilhaft sticht doch gegen diese mehr oder minder anerkennenswerther einheimischen Producte ein fremder Gast ab: David Copperfield. Von Charles Dickens. Fünf Bände, Leipzig, I. I. Weber. Da wir über dieses Werk und über Dickens im Allgemeinen uns bereits hinläng¬ lich ausgesprochen haben, so beschränken wir uns auf einige Bemerkungen in Beziehung aus die Übersetzung. Eine der größten Schwierigkeiten sür den Uebersetzer von Dickens ist das corrumpirte Englisch, welches er seine niedern Stände sprechen läßt, und das sich im Original komisch genug ausmacht, im Deutschen aber, wenn man es durch ein corrum- pirtes Deutsch, oder gar durch einen bestimmten deutschen Dialekt, oder noch schlimmer durch den Berliner oder Leipziger Dialekt, oder am allerschlimmsten durch ein Gemisch aus Berlinerisch und Leipzigerisch wiederzugeben sucht, einen höchst unangenehmen und häßlichen Eindruck hervorbringt. Nach unsrer Ueberzeugung soll sich der Uebersetzer auch in diesen Stellen im Hochdeutschen halten und deu Unterschied der Bildung nur durch einfachere Sprach- und Satzsormen ausdrücken. Nur bei entschieden komischen Stellen wird eine Verwechslung von „mir" und „mich", „Gott und „Jott" und dergleichen zu ertragen sein, und auch dann kaum; wenn aber der alte Fischer Pcggotty im Augen¬ blick des höchsten Jammers, wo sein Kind ihm geraubt ist und er sich zum reinsten Pa¬ thos des Schmerzes erhebt, mir und mich verwechselt, so ist das geradezu unaus¬ stehlich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/129>, abgerufen am 29.04.2024.