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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Die gegenwärtige Lage des Ministeriums Russell.

Die fünfte Session eines Englische" Parlaments ist immer eine kritische für
das bestehende Cabinet. Die nahe Auflösung macht die ministeriellen Mitglieder,
welche den Preis für ihre Unterstützung bereits in Händen haben, kälter in ihrer
Anhänglichkeit, und diejenigen, welche des Lohnes noch harren, dringlicher in ihren
Anforderungen und allzngeneigt, dem Ministerium durch Widerspenstigkeit Con¬
cessionen abzutrotzen. Bei den unabhängigen Mitgliedern frischt die Aussicht
ans die bald bevorstehende Neuwahl die Erinnerungen an die Versprechungen
ans', die sie ihren Constituenten ans den Hustings gemacht haben, sie bestürmen
das Cabinet mit Resormanträgen, und auch die eigentliche Opposition trägt Sorge,
durch lebhaftere Angriffe ihr Dasein den Ministern und dem Lande bemerklich zu
machen, und sich in kluger Vorsorge für die allgemeinen Wahlen einen frischen
Vorrath von Popularität einzulegen. Und während durch diese Umstände
die ministerielle Phalanx gelockert und die Opposition gekräftigt wird, scheut
sich das Cabinet gewöhnlich, einem Parlament, dein die nahe Auflösung viel von
seiner Autorität nimmt, Maßregeln von großer Wichtigkeit vorzulegen. Dadurch
geräth es leicht in Gefahr, die Direction des Hauses ganz und gar zu verlieren.

Das diesjährige Parlament macht von dieser regelmäßig wiederkehrenden
Stimmung keine Ausnahme, aber dennoch glaubte man, daß die Session für das
Ministerium ruhig vorübergehen werde. Die große Indnstrieansstcllnng lenkte die
Geister von den politischen Fragen ab, das Budget zeigte einen Ueberschuß von
2 Millionen Pfund, und der Schatzkanzler konnte also die Lasten der Steuer¬
pflichtigen beträchtlich erleichtern; nud Lord John Russell's kräftiger Brief gegen
das päpstliche Breve, das ganz England, ohne sich um die Regierung zu kümmern,
in katholische Bisthümer und Erzbisthümer theilte, hatte sogar die Masse, der
Conservativen in enthusiastische Anhänger verwandelt. Man erwartete und for¬
derte wenig von dem Ministerium: eine Regelung und wo möglich Ermäßigung
der Einkommensteuer, die in Folge des Überschusses leicht zu ermöglichen war,
eine Reform der Kanzleigerichtshofs, eine schon seit mehrern Sessionen stets
versprochene und stets hinanSgeschobenc mäßige Ausdehnung des Wahlrechts,
und endlich einen wirksamen Schutz gegen die drohenden Uebergriffe des päpstli¬
che" Stuhles. Befriedigte das Whigmittisterim" diese gewiß sehr bescheidenen
Forderungen, so konnte es ans einen beträchtlichen Zuwachs seiner Macht und
seiner Popularität und auf einen langen Bestand rechnen.

Diese schöne Stellung hat sich das Ministerium Russell durch Halbheit und
Schwäche in wenig mehr als 16 Tagen ganz und gar verdorben, und was Anfangs
eine Bedingung seiner Stärke zu sein schien, ist durch eigene Schuld Haupt-


Die gegenwärtige Lage des Ministeriums Russell.

Die fünfte Session eines Englische» Parlaments ist immer eine kritische für
das bestehende Cabinet. Die nahe Auflösung macht die ministeriellen Mitglieder,
welche den Preis für ihre Unterstützung bereits in Händen haben, kälter in ihrer
Anhänglichkeit, und diejenigen, welche des Lohnes noch harren, dringlicher in ihren
Anforderungen und allzngeneigt, dem Ministerium durch Widerspenstigkeit Con¬
cessionen abzutrotzen. Bei den unabhängigen Mitgliedern frischt die Aussicht
ans die bald bevorstehende Neuwahl die Erinnerungen an die Versprechungen
ans', die sie ihren Constituenten ans den Hustings gemacht haben, sie bestürmen
das Cabinet mit Resormanträgen, und auch die eigentliche Opposition trägt Sorge,
durch lebhaftere Angriffe ihr Dasein den Ministern und dem Lande bemerklich zu
machen, und sich in kluger Vorsorge für die allgemeinen Wahlen einen frischen
Vorrath von Popularität einzulegen. Und während durch diese Umstände
die ministerielle Phalanx gelockert und die Opposition gekräftigt wird, scheut
sich das Cabinet gewöhnlich, einem Parlament, dein die nahe Auflösung viel von
seiner Autorität nimmt, Maßregeln von großer Wichtigkeit vorzulegen. Dadurch
geräth es leicht in Gefahr, die Direction des Hauses ganz und gar zu verlieren.

Das diesjährige Parlament macht von dieser regelmäßig wiederkehrenden
Stimmung keine Ausnahme, aber dennoch glaubte man, daß die Session für das
Ministerium ruhig vorübergehen werde. Die große Indnstrieansstcllnng lenkte die
Geister von den politischen Fragen ab, das Budget zeigte einen Ueberschuß von
2 Millionen Pfund, und der Schatzkanzler konnte also die Lasten der Steuer¬
pflichtigen beträchtlich erleichtern; nud Lord John Russell's kräftiger Brief gegen
das päpstliche Breve, das ganz England, ohne sich um die Regierung zu kümmern,
in katholische Bisthümer und Erzbisthümer theilte, hatte sogar die Masse, der
Conservativen in enthusiastische Anhänger verwandelt. Man erwartete und for¬
derte wenig von dem Ministerium: eine Regelung und wo möglich Ermäßigung
der Einkommensteuer, die in Folge des Überschusses leicht zu ermöglichen war,
eine Reform der Kanzleigerichtshofs, eine schon seit mehrern Sessionen stets
versprochene und stets hinanSgeschobenc mäßige Ausdehnung des Wahlrechts,
und endlich einen wirksamen Schutz gegen die drohenden Uebergriffe des päpstli¬
che» Stuhles. Befriedigte das Whigmittisterim» diese gewiß sehr bescheidenen
Forderungen, so konnte es ans einen beträchtlichen Zuwachs seiner Macht und
seiner Popularität und auf einen langen Bestand rechnen.

Diese schöne Stellung hat sich das Ministerium Russell durch Halbheit und
Schwäche in wenig mehr als 16 Tagen ganz und gar verdorben, und was Anfangs
eine Bedingung seiner Stärke zu sein schien, ist durch eigene Schuld Haupt-


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[0316] Die gegenwärtige Lage des Ministeriums Russell. Die fünfte Session eines Englische» Parlaments ist immer eine kritische für das bestehende Cabinet. Die nahe Auflösung macht die ministeriellen Mitglieder, welche den Preis für ihre Unterstützung bereits in Händen haben, kälter in ihrer Anhänglichkeit, und diejenigen, welche des Lohnes noch harren, dringlicher in ihren Anforderungen und allzngeneigt, dem Ministerium durch Widerspenstigkeit Con¬ cessionen abzutrotzen. Bei den unabhängigen Mitgliedern frischt die Aussicht ans die bald bevorstehende Neuwahl die Erinnerungen an die Versprechungen ans', die sie ihren Constituenten ans den Hustings gemacht haben, sie bestürmen das Cabinet mit Resormanträgen, und auch die eigentliche Opposition trägt Sorge, durch lebhaftere Angriffe ihr Dasein den Ministern und dem Lande bemerklich zu machen, und sich in kluger Vorsorge für die allgemeinen Wahlen einen frischen Vorrath von Popularität einzulegen. Und während durch diese Umstände die ministerielle Phalanx gelockert und die Opposition gekräftigt wird, scheut sich das Cabinet gewöhnlich, einem Parlament, dein die nahe Auflösung viel von seiner Autorität nimmt, Maßregeln von großer Wichtigkeit vorzulegen. Dadurch geräth es leicht in Gefahr, die Direction des Hauses ganz und gar zu verlieren. Das diesjährige Parlament macht von dieser regelmäßig wiederkehrenden Stimmung keine Ausnahme, aber dennoch glaubte man, daß die Session für das Ministerium ruhig vorübergehen werde. Die große Indnstrieansstcllnng lenkte die Geister von den politischen Fragen ab, das Budget zeigte einen Ueberschuß von 2 Millionen Pfund, und der Schatzkanzler konnte also die Lasten der Steuer¬ pflichtigen beträchtlich erleichtern; nud Lord John Russell's kräftiger Brief gegen das päpstliche Breve, das ganz England, ohne sich um die Regierung zu kümmern, in katholische Bisthümer und Erzbisthümer theilte, hatte sogar die Masse, der Conservativen in enthusiastische Anhänger verwandelt. Man erwartete und for¬ derte wenig von dem Ministerium: eine Regelung und wo möglich Ermäßigung der Einkommensteuer, die in Folge des Überschusses leicht zu ermöglichen war, eine Reform der Kanzleigerichtshofs, eine schon seit mehrern Sessionen stets versprochene und stets hinanSgeschobenc mäßige Ausdehnung des Wahlrechts, und endlich einen wirksamen Schutz gegen die drohenden Uebergriffe des päpstli¬ che» Stuhles. Befriedigte das Whigmittisterim» diese gewiß sehr bescheidenen Forderungen, so konnte es ans einen beträchtlichen Zuwachs seiner Macht und seiner Popularität und auf einen langen Bestand rechnen. Diese schöne Stellung hat sich das Ministerium Russell durch Halbheit und Schwäche in wenig mehr als 16 Tagen ganz und gar verdorben, und was Anfangs eine Bedingung seiner Stärke zu sein schien, ist durch eigene Schuld Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/316>, abgerufen am 28.04.2024.