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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Die Stellung der Deutschen Philosophie zur Wissen¬
schaft und zum Leben.

So ziemlich die ganze Generatio", die sich in unsern Tagen unter die
literarisch Gebildeten rechnet, hat wenigstens bis zu einem gewissen Grade die
philosophische Schule durchgemacht. Wer Hegel nicht aus eigenem Studium
kennt, hat wenigstens ein Kollegium über ihn gehört, und wo auch das nicht
der Fall ist, wird ihm durch jede beliebige Schrift irgend ein Brocken von
jenen Lehren beigebracht. Man kann dreist behaupten, daß die Einflüsse jener
Schule bereits in der Atmosphäre liegen, und daß sich Diejenigen ihnen am
Wenigsten entziehen, die sich so wenig als möglich mit ihr beschäftigen; denn der
Einfluß einer Kraft, die man nicht versteht, ist am Schwersten abzuwenden.

Eben so allgemein wird aber auch die Erfahrung sein, daß namentlich in der
schriftstellerischen Thätigkeit bei einem gewissenhaften Studium allmälig eine starke
Reaction gegen diese philosophischen Voraussetzungen eintritt, und daß man in
diesem Fall nicht selten geneigt ist, auf der entgegengesetzten Seite zu weit zu
gehen, und die wohlthätigen Einwirkungen jener Schule zu gering anzuschlagen.
Der Widerwille tritt dann am Lebhaftesten vor, wenn man sieht, mit welcher
leichtfertigen Gedankenlosigkeit halbgebildete Menschen mit jenen Phrasen operiren,
in denen man früher einen tiefen Sinn gefunden hat, und wie wenig dieselben dazu
beigetragen haben, die Sicherheit und Integrität deö Urtheils zu fördern. Wenn
man diesen Mißbrauch der Philosophie ins Auge faßt, so wird man leicht getrieben,
jenen Ausspruch, den die Reaction auf Montesquieu angewandt hat, ans das
Studium der Hegelschen Philosophie zu übertragen. Durch diese einseitige
Ablehnung wird aber Nichts gefördert, und es ist nöthig, auch den als schädlich
erkannten Einfluß mit Ernst und Gewissenhaftigkeit zu prüfe". In einem Jour-
nalartikel kann dergleichen natürlich nur andeutungsweise geschehen.

Die Philosophie hat sich häufig darüber beschwert, daß sie die einzige Wis¬
senschaft sei, über die sich der Erste Beste ein Urtheil anmaße, ohne sie vorher
studirt zu haben; aber sie vergißt dabei, daß sie auch die einzige ist, die ein


Grenzboten. II. 1851. 46
Die Stellung der Deutschen Philosophie zur Wissen¬
schaft und zum Leben.

So ziemlich die ganze Generatio», die sich in unsern Tagen unter die
literarisch Gebildeten rechnet, hat wenigstens bis zu einem gewissen Grade die
philosophische Schule durchgemacht. Wer Hegel nicht aus eigenem Studium
kennt, hat wenigstens ein Kollegium über ihn gehört, und wo auch das nicht
der Fall ist, wird ihm durch jede beliebige Schrift irgend ein Brocken von
jenen Lehren beigebracht. Man kann dreist behaupten, daß die Einflüsse jener
Schule bereits in der Atmosphäre liegen, und daß sich Diejenigen ihnen am
Wenigsten entziehen, die sich so wenig als möglich mit ihr beschäftigen; denn der
Einfluß einer Kraft, die man nicht versteht, ist am Schwersten abzuwenden.

Eben so allgemein wird aber auch die Erfahrung sein, daß namentlich in der
schriftstellerischen Thätigkeit bei einem gewissenhaften Studium allmälig eine starke
Reaction gegen diese philosophischen Voraussetzungen eintritt, und daß man in
diesem Fall nicht selten geneigt ist, auf der entgegengesetzten Seite zu weit zu
gehen, und die wohlthätigen Einwirkungen jener Schule zu gering anzuschlagen.
Der Widerwille tritt dann am Lebhaftesten vor, wenn man sieht, mit welcher
leichtfertigen Gedankenlosigkeit halbgebildete Menschen mit jenen Phrasen operiren,
in denen man früher einen tiefen Sinn gefunden hat, und wie wenig dieselben dazu
beigetragen haben, die Sicherheit und Integrität deö Urtheils zu fördern. Wenn
man diesen Mißbrauch der Philosophie ins Auge faßt, so wird man leicht getrieben,
jenen Ausspruch, den die Reaction auf Montesquieu angewandt hat, ans das
Studium der Hegelschen Philosophie zu übertragen. Durch diese einseitige
Ablehnung wird aber Nichts gefördert, und es ist nöthig, auch den als schädlich
erkannten Einfluß mit Ernst und Gewissenhaftigkeit zu prüfe». In einem Jour-
nalartikel kann dergleichen natürlich nur andeutungsweise geschehen.

Die Philosophie hat sich häufig darüber beschwert, daß sie die einzige Wis¬
senschaft sei, über die sich der Erste Beste ein Urtheil anmaße, ohne sie vorher
studirt zu haben; aber sie vergißt dabei, daß sie auch die einzige ist, die ein


Grenzboten. II. 1851. 46
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[0373] Die Stellung der Deutschen Philosophie zur Wissen¬ schaft und zum Leben. So ziemlich die ganze Generatio», die sich in unsern Tagen unter die literarisch Gebildeten rechnet, hat wenigstens bis zu einem gewissen Grade die philosophische Schule durchgemacht. Wer Hegel nicht aus eigenem Studium kennt, hat wenigstens ein Kollegium über ihn gehört, und wo auch das nicht der Fall ist, wird ihm durch jede beliebige Schrift irgend ein Brocken von jenen Lehren beigebracht. Man kann dreist behaupten, daß die Einflüsse jener Schule bereits in der Atmosphäre liegen, und daß sich Diejenigen ihnen am Wenigsten entziehen, die sich so wenig als möglich mit ihr beschäftigen; denn der Einfluß einer Kraft, die man nicht versteht, ist am Schwersten abzuwenden. Eben so allgemein wird aber auch die Erfahrung sein, daß namentlich in der schriftstellerischen Thätigkeit bei einem gewissenhaften Studium allmälig eine starke Reaction gegen diese philosophischen Voraussetzungen eintritt, und daß man in diesem Fall nicht selten geneigt ist, auf der entgegengesetzten Seite zu weit zu gehen, und die wohlthätigen Einwirkungen jener Schule zu gering anzuschlagen. Der Widerwille tritt dann am Lebhaftesten vor, wenn man sieht, mit welcher leichtfertigen Gedankenlosigkeit halbgebildete Menschen mit jenen Phrasen operiren, in denen man früher einen tiefen Sinn gefunden hat, und wie wenig dieselben dazu beigetragen haben, die Sicherheit und Integrität deö Urtheils zu fördern. Wenn man diesen Mißbrauch der Philosophie ins Auge faßt, so wird man leicht getrieben, jenen Ausspruch, den die Reaction auf Montesquieu angewandt hat, ans das Studium der Hegelschen Philosophie zu übertragen. Durch diese einseitige Ablehnung wird aber Nichts gefördert, und es ist nöthig, auch den als schädlich erkannten Einfluß mit Ernst und Gewissenhaftigkeit zu prüfe». In einem Jour- nalartikel kann dergleichen natürlich nur andeutungsweise geschehen. Die Philosophie hat sich häufig darüber beschwert, daß sie die einzige Wis¬ senschaft sei, über die sich der Erste Beste ein Urtheil anmaße, ohne sie vorher studirt zu haben; aber sie vergißt dabei, daß sie auch die einzige ist, die ein Grenzboten. II. 1851. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/373>, abgerufen am 29.04.2024.