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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Englische Stovell ist e n.
II. Walter Scott,

Die Popularität Walter Scott's in Deutschland ist zu den Zeiten, in welche
man seine eigentliche Blüthe rechnen muß, so groß gewesen, daß sie selbst über
die neuesten Pariser Feuilleton-Romane herausgeht; dagegen hat die specifische
Literatur stets mit einem gewissen Achselzucken von ihm gesprochen. Es ist das
zum Theil zu erklären aus der Tendenz der letzten Jahrzehnte, in der Dichtung
den Schlüssel zur Lösung philosophischer und sehr verwickelter Probleme
zu suchen, und daher nirgend eine dichterische Kraft gelten zu lassen, wo man
nicht von einem wild bewegten Chaos der sittlichen und religiösen Begriffe er¬
faßt wurde. Ein solches ist bei Walter Scott allerdings nicht zu finden. Außer¬
dem wirkte bei den meisten Belletristen, die eigentlich nur immer für ihres Gleichen
schreiben, eine geheime Abneigung mit gegen alle diejenigen Schriften, welche dem
Volke verständlich und genießbar waren. Tieck war der Erste, der für diese
leichte Behandlung des britischen Dichters den Ton angab. Er sprach ihm zwar
keineswegs alle Verdienste ab, aber er reihte ihn doch uuter die Dichter dritter
Ordnung und stellte sogar den Italiener Manzoni über ihn. Dagegen ist es
Börne rühmend zu gedenken, daß er trotz der Abneigung, die er gegen die poli¬
tischen Principien Walter Scott's hegen mußte, in ihm den großen Dichter er¬
kannte, u>it es war eine der Paradoxien dieses seltsamen Kritikers, daß er den einzel¬
nen Fall zu einer Regel erhob und für den Dichter überhaupt das conservative Princip
als eine nothwendige Grundlage vindicirte. Es ist das so wenig wahr, selbst in
diesem besondern Fall, daß Walter Scott mit seinen aristokratischen und realisti¬
schen Sympathien eigentlich als ein Neuerer gegen die herrschenden Ansichten der
Gesellschaft anzusehen ist.

Da Walter Scott aufgehört hat, ein Gegenstand für die lesende Masse zu
sein, wenigstens in dem Grade, wie es früher der Fall war, so ist es an der
Zeit, sich über seine literarhistorische Stellung ins Klare zu setzen. Es


Grenzboten. II. 18SI. 6
Englische Stovell ist e n.
II. Walter Scott,

Die Popularität Walter Scott's in Deutschland ist zu den Zeiten, in welche
man seine eigentliche Blüthe rechnen muß, so groß gewesen, daß sie selbst über
die neuesten Pariser Feuilleton-Romane herausgeht; dagegen hat die specifische
Literatur stets mit einem gewissen Achselzucken von ihm gesprochen. Es ist das
zum Theil zu erklären aus der Tendenz der letzten Jahrzehnte, in der Dichtung
den Schlüssel zur Lösung philosophischer und sehr verwickelter Probleme
zu suchen, und daher nirgend eine dichterische Kraft gelten zu lassen, wo man
nicht von einem wild bewegten Chaos der sittlichen und religiösen Begriffe er¬
faßt wurde. Ein solches ist bei Walter Scott allerdings nicht zu finden. Außer¬
dem wirkte bei den meisten Belletristen, die eigentlich nur immer für ihres Gleichen
schreiben, eine geheime Abneigung mit gegen alle diejenigen Schriften, welche dem
Volke verständlich und genießbar waren. Tieck war der Erste, der für diese
leichte Behandlung des britischen Dichters den Ton angab. Er sprach ihm zwar
keineswegs alle Verdienste ab, aber er reihte ihn doch uuter die Dichter dritter
Ordnung und stellte sogar den Italiener Manzoni über ihn. Dagegen ist es
Börne rühmend zu gedenken, daß er trotz der Abneigung, die er gegen die poli¬
tischen Principien Walter Scott's hegen mußte, in ihm den großen Dichter er¬
kannte, u>it es war eine der Paradoxien dieses seltsamen Kritikers, daß er den einzel¬
nen Fall zu einer Regel erhob und für den Dichter überhaupt das conservative Princip
als eine nothwendige Grundlage vindicirte. Es ist das so wenig wahr, selbst in
diesem besondern Fall, daß Walter Scott mit seinen aristokratischen und realisti¬
schen Sympathien eigentlich als ein Neuerer gegen die herrschenden Ansichten der
Gesellschaft anzusehen ist.

Da Walter Scott aufgehört hat, ein Gegenstand für die lesende Masse zu
sein, wenigstens in dem Grade, wie es früher der Fall war, so ist es an der
Zeit, sich über seine literarhistorische Stellung ins Klare zu setzen. Es


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[0053] Englische Stovell ist e n. II. Walter Scott, Die Popularität Walter Scott's in Deutschland ist zu den Zeiten, in welche man seine eigentliche Blüthe rechnen muß, so groß gewesen, daß sie selbst über die neuesten Pariser Feuilleton-Romane herausgeht; dagegen hat die specifische Literatur stets mit einem gewissen Achselzucken von ihm gesprochen. Es ist das zum Theil zu erklären aus der Tendenz der letzten Jahrzehnte, in der Dichtung den Schlüssel zur Lösung philosophischer und sehr verwickelter Probleme zu suchen, und daher nirgend eine dichterische Kraft gelten zu lassen, wo man nicht von einem wild bewegten Chaos der sittlichen und religiösen Begriffe er¬ faßt wurde. Ein solches ist bei Walter Scott allerdings nicht zu finden. Außer¬ dem wirkte bei den meisten Belletristen, die eigentlich nur immer für ihres Gleichen schreiben, eine geheime Abneigung mit gegen alle diejenigen Schriften, welche dem Volke verständlich und genießbar waren. Tieck war der Erste, der für diese leichte Behandlung des britischen Dichters den Ton angab. Er sprach ihm zwar keineswegs alle Verdienste ab, aber er reihte ihn doch uuter die Dichter dritter Ordnung und stellte sogar den Italiener Manzoni über ihn. Dagegen ist es Börne rühmend zu gedenken, daß er trotz der Abneigung, die er gegen die poli¬ tischen Principien Walter Scott's hegen mußte, in ihm den großen Dichter er¬ kannte, u>it es war eine der Paradoxien dieses seltsamen Kritikers, daß er den einzel¬ nen Fall zu einer Regel erhob und für den Dichter überhaupt das conservative Princip als eine nothwendige Grundlage vindicirte. Es ist das so wenig wahr, selbst in diesem besondern Fall, daß Walter Scott mit seinen aristokratischen und realisti¬ schen Sympathien eigentlich als ein Neuerer gegen die herrschenden Ansichten der Gesellschaft anzusehen ist. Da Walter Scott aufgehört hat, ein Gegenstand für die lesende Masse zu sein, wenigstens in dem Grade, wie es früher der Fall war, so ist es an der Zeit, sich über seine literarhistorische Stellung ins Klare zu setzen. Es Grenzboten. II. 18SI. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/53>, abgerufen am 28.04.2024.