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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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und sehe ich, wie das der Natur der Dinge gemäß und wie ich fürchte nur zu
bald geschehen wird, daß ernstliche Zweifel den Glauben an meine Unfehlbarkeit
erschüttern, sinkt in Folge dieser Zweifel meine Praxis zu der gewöhnlichen
Routine herab, so sattle ich meinen Fuchs und ziehe in einen andern westlichen
Staat, wo ich das Geschäft von Neuem beginnen kann, einige gute Erntejahre
können mir genng geben, um später meine Existenz zu sicherm. Mein alter
Principal in Cincinnati sagte: "Jeder amerikanische Arzt hat seine Glanz¬
periode und seinen Fall; man Schmiede das Eisen daher, während es heiß ist."


H.....


Das Ghetto von Prag.

Mancher tüchtige Gesell ist aus der Judeustadr Prag's in die weite Welt
hinausgezogen, und manche rührende und heitere Geschichte aus dem wunderlichen,
unheimlichen Viertel hat die deutschen Leser unterhalten. Seit Leopold Kompert
seine Novellen "Ans dem Ghetto" und "Böhmische Juden" schrieb, hat die
Prager Judenstadt eine gewisse poetische Berühmtheit bekommen; und wenn
schon früher der Reisende mit einem leisen Schauer den uralten Judenkirchhof zu
besichtigen eilte, so geht er jetzt durch die engen geschwärzten Gassen nicht ohne
jene Befriedigung, welche der Anblick poetisch verarbeiteter Oertlichkeiten zu ge¬
währen Pflegt. Deshalb mögen auch Ihre Leser uicht verschmähen, mich auf
einem Gauge uach der Judenstadt vou Prag zu begleite".

Am Eingang des Ghetto sitzt eine Gruppe jüdischer Lastträger, die ihr
Mittagsmal verzehren. Man sieht den oft verzwergten, zu Boden gekrümmten
und Steinalten Männern die ungeheuere Körperkraft nicht an, die sie bei ihrem
Gewerbe an Tag legen; freilich ist diese Kraft eine leidende, und Lastenträger
scheint eine passende Arbeit für ein jochgewöhntes Volk. Fabelhaft hohe Kisten
und Kasten, den ganzen Hausrath einer Familie pflegt ein solches granhaariges,
verschrumpfteö und verrunzeltes Kerlchen, fast am Boden kriechend, halbe Stunden
weit allein zu schleppe"; und ich glaube, daß es, mit Ausnahme von Amsterdam,
nur in wenigen Städten Enropa's eine Jndenclasse gibt, die an so anstrengende
körperliche Arbeit gewöhnt ist.

Die "Breilegaß" ist der Corso oder Marcusplatz des Ghetto; seine finstere
Herrlichkeit lernt man erst in den Seitengäßchen vollständig schätzen, die bei
jedem Welter den engen Seitencanälen in den verfallensten Regionen Venedigs
gleichen. Alles schwarz, Alles unheimlich: Thorwege und Treppen, wo man am
hellen Mittage gern eine Laterne trüge; Dächer, die, hunderfach geflickt, von
den hohen Häuserreihen auf beide" Seiten sich stellenweise die Hände reichen
und luftige schmale Brücken für müde Tauben und Sperlinge bilden. Jedes


Grenzboten. I. lLSl. 8

und sehe ich, wie das der Natur der Dinge gemäß und wie ich fürchte nur zu
bald geschehen wird, daß ernstliche Zweifel den Glauben an meine Unfehlbarkeit
erschüttern, sinkt in Folge dieser Zweifel meine Praxis zu der gewöhnlichen
Routine herab, so sattle ich meinen Fuchs und ziehe in einen andern westlichen
Staat, wo ich das Geschäft von Neuem beginnen kann, einige gute Erntejahre
können mir genng geben, um später meine Existenz zu sicherm. Mein alter
Principal in Cincinnati sagte: „Jeder amerikanische Arzt hat seine Glanz¬
periode und seinen Fall; man Schmiede das Eisen daher, während es heiß ist."


H.....


Das Ghetto von Prag.

Mancher tüchtige Gesell ist aus der Judeustadr Prag's in die weite Welt
hinausgezogen, und manche rührende und heitere Geschichte aus dem wunderlichen,
unheimlichen Viertel hat die deutschen Leser unterhalten. Seit Leopold Kompert
seine Novellen „Ans dem Ghetto" und „Böhmische Juden" schrieb, hat die
Prager Judenstadt eine gewisse poetische Berühmtheit bekommen; und wenn
schon früher der Reisende mit einem leisen Schauer den uralten Judenkirchhof zu
besichtigen eilte, so geht er jetzt durch die engen geschwärzten Gassen nicht ohne
jene Befriedigung, welche der Anblick poetisch verarbeiteter Oertlichkeiten zu ge¬
währen Pflegt. Deshalb mögen auch Ihre Leser uicht verschmähen, mich auf
einem Gauge uach der Judenstadt vou Prag zu begleite».

Am Eingang des Ghetto sitzt eine Gruppe jüdischer Lastträger, die ihr
Mittagsmal verzehren. Man sieht den oft verzwergten, zu Boden gekrümmten
und Steinalten Männern die ungeheuere Körperkraft nicht an, die sie bei ihrem
Gewerbe an Tag legen; freilich ist diese Kraft eine leidende, und Lastenträger
scheint eine passende Arbeit für ein jochgewöhntes Volk. Fabelhaft hohe Kisten
und Kasten, den ganzen Hausrath einer Familie pflegt ein solches granhaariges,
verschrumpfteö und verrunzeltes Kerlchen, fast am Boden kriechend, halbe Stunden
weit allein zu schleppe«; und ich glaube, daß es, mit Ausnahme von Amsterdam,
nur in wenigen Städten Enropa's eine Jndenclasse gibt, die an so anstrengende
körperliche Arbeit gewöhnt ist.

Die „Breilegaß" ist der Corso oder Marcusplatz des Ghetto; seine finstere
Herrlichkeit lernt man erst in den Seitengäßchen vollständig schätzen, die bei
jedem Welter den engen Seitencanälen in den verfallensten Regionen Venedigs
gleichen. Alles schwarz, Alles unheimlich: Thorwege und Treppen, wo man am
hellen Mittage gern eine Laterne trüge; Dächer, die, hunderfach geflickt, von
den hohen Häuserreihen auf beide» Seiten sich stellenweise die Hände reichen
und luftige schmale Brücken für müde Tauben und Sperlinge bilden. Jedes


Grenzboten. I. lLSl. 8
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/69>, abgerufen am 04.05.2024.