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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Die Stimmung in Hannover.

Die politische Bewegung unsres Landes erschöpft sich gegenwärtig in zwei
großen Fragen, die an innerer Bedeutung gewiß von derselben Tragweite sind,
wie der vielberufene Umsturz des Staatsgrundgesetzes im Jahre 1837. Begann
der verstorbene König seine Laufbahn als Regent mit der frevelhaftesten Hand¬
lung, deren ein Fürst sich schuldig machen kann, so hat er seinen Unterthanen
gleichsam als letzte Sühne ein Erbtheil hinterlassen, das wol als Schlußstein
einer segensreichen Negierung gelten darf, indem es sowol nach innen als nach
anßen den Weg einer gesunden und fortschreitenden Politik mit kräftigem Doppel¬
schritt eröffnet. Dieses Erbtheil sind zunächst die Organisationen der Verwaltung,
der Justiz, der Provinzialvertretung, und dann der Vertrag mit Preußen vom
September des vorigen Jahres, dessen Gegenstand die Verschmelzung des nord¬
westdeutschen Steuervereinö mit dem Zollverein war. Es unterliegt keinem Zweisel,
daß nicht der Septembervertrag allein, sondern auch die Organisationen im Sinne
ihrer Urheber ausgeführt und vollendet worden wären, wenn sich der Lebensfaden
des vorigen Monarchen nur um eine kurze Frist verlängert hätte.

Beide Aussichten begannen sich augenblicklich zu verfinstern, als sein Nach¬
folger den Thron bestieg. Streng kirchlich und in den starren Grundsätzen des
hohen englischen Adels erzogen, brachte Georg V. nicht mehr Geschmack an con-
stitutionellen Formen und parlamentarischer Regierung auf das Festland mit, als
sein eiserner Vater selbst. Diesen aber empfing die rauhe Schule der Erfahrung,
und verband sich mit der tiefen Vortrefflichkeit seiner Natur, um aus dem englischen
Hochtory einen gerechten und mäßigen Herrscher herauszubilden, .während der früh
erblindete Sohn in eine halb freiwillige, halb aufgedrängte Abgeschiedenheit von
der Welt und dem Hofleben zurücktrat, die etwa eingesogene Vorurtheile uicht berich¬
tigen, noch seine nicht glänzenden Fähigkeiten entwickeln konnte. Der unersetzliche
Mangel des Gesichts schien ihn nur um so mehr in sich selbst zu verschließen,
nur um so entschlossener zu machen, jede eigene Thätigkeit und handelnde
Theilnahme an den Geschäften von sich fern zu halten und nöthigenfalls auf
die gefälligen Schultern seiner ersten Diener abzuwälzen. So ist denn das
hannoversche Volk über die eigentlichen Meinungen und Absichten seines gegen¬
wärtigen Regenten noch heute völlig im Unklaren; und leider ist nur so viel
gewiß, daß das Volk ihm weder die Willenskraft, noch die treue Beharrlichkeit seines
königlichen Vaters zutraut. Wir Alle glauben ihn dem Einfluß seiner nächsten
Umgebungen unbedingt verfallen; uns ist nicht Georg V., sondern seine Umgebung,
Inhaber der höchsten Stelle, und darum nennen wir noch immer den Thron¬
wechsel ein trauriges Ereigniß. Ueber die Sehenden König zu sein, ist für einen
Blinden schwer! selbst wenn er die angeborne Fähigkeit eines unabhängigen Willens


Die Stimmung in Hannover.

Die politische Bewegung unsres Landes erschöpft sich gegenwärtig in zwei
großen Fragen, die an innerer Bedeutung gewiß von derselben Tragweite sind,
wie der vielberufene Umsturz des Staatsgrundgesetzes im Jahre 1837. Begann
der verstorbene König seine Laufbahn als Regent mit der frevelhaftesten Hand¬
lung, deren ein Fürst sich schuldig machen kann, so hat er seinen Unterthanen
gleichsam als letzte Sühne ein Erbtheil hinterlassen, das wol als Schlußstein
einer segensreichen Negierung gelten darf, indem es sowol nach innen als nach
anßen den Weg einer gesunden und fortschreitenden Politik mit kräftigem Doppel¬
schritt eröffnet. Dieses Erbtheil sind zunächst die Organisationen der Verwaltung,
der Justiz, der Provinzialvertretung, und dann der Vertrag mit Preußen vom
September des vorigen Jahres, dessen Gegenstand die Verschmelzung des nord¬
westdeutschen Steuervereinö mit dem Zollverein war. Es unterliegt keinem Zweisel,
daß nicht der Septembervertrag allein, sondern auch die Organisationen im Sinne
ihrer Urheber ausgeführt und vollendet worden wären, wenn sich der Lebensfaden
des vorigen Monarchen nur um eine kurze Frist verlängert hätte.

Beide Aussichten begannen sich augenblicklich zu verfinstern, als sein Nach¬
folger den Thron bestieg. Streng kirchlich und in den starren Grundsätzen des
hohen englischen Adels erzogen, brachte Georg V. nicht mehr Geschmack an con-
stitutionellen Formen und parlamentarischer Regierung auf das Festland mit, als
sein eiserner Vater selbst. Diesen aber empfing die rauhe Schule der Erfahrung,
und verband sich mit der tiefen Vortrefflichkeit seiner Natur, um aus dem englischen
Hochtory einen gerechten und mäßigen Herrscher herauszubilden, .während der früh
erblindete Sohn in eine halb freiwillige, halb aufgedrängte Abgeschiedenheit von
der Welt und dem Hofleben zurücktrat, die etwa eingesogene Vorurtheile uicht berich¬
tigen, noch seine nicht glänzenden Fähigkeiten entwickeln konnte. Der unersetzliche
Mangel des Gesichts schien ihn nur um so mehr in sich selbst zu verschließen,
nur um so entschlossener zu machen, jede eigene Thätigkeit und handelnde
Theilnahme an den Geschäften von sich fern zu halten und nöthigenfalls auf
die gefälligen Schultern seiner ersten Diener abzuwälzen. So ist denn das
hannoversche Volk über die eigentlichen Meinungen und Absichten seines gegen¬
wärtigen Regenten noch heute völlig im Unklaren; und leider ist nur so viel
gewiß, daß das Volk ihm weder die Willenskraft, noch die treue Beharrlichkeit seines
königlichen Vaters zutraut. Wir Alle glauben ihn dem Einfluß seiner nächsten
Umgebungen unbedingt verfallen; uns ist nicht Georg V., sondern seine Umgebung,
Inhaber der höchsten Stelle, und darum nennen wir noch immer den Thron¬
wechsel ein trauriges Ereigniß. Ueber die Sehenden König zu sein, ist für einen
Blinden schwer! selbst wenn er die angeborne Fähigkeit eines unabhängigen Willens


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[0280] Die Stimmung in Hannover. Die politische Bewegung unsres Landes erschöpft sich gegenwärtig in zwei großen Fragen, die an innerer Bedeutung gewiß von derselben Tragweite sind, wie der vielberufene Umsturz des Staatsgrundgesetzes im Jahre 1837. Begann der verstorbene König seine Laufbahn als Regent mit der frevelhaftesten Hand¬ lung, deren ein Fürst sich schuldig machen kann, so hat er seinen Unterthanen gleichsam als letzte Sühne ein Erbtheil hinterlassen, das wol als Schlußstein einer segensreichen Negierung gelten darf, indem es sowol nach innen als nach anßen den Weg einer gesunden und fortschreitenden Politik mit kräftigem Doppel¬ schritt eröffnet. Dieses Erbtheil sind zunächst die Organisationen der Verwaltung, der Justiz, der Provinzialvertretung, und dann der Vertrag mit Preußen vom September des vorigen Jahres, dessen Gegenstand die Verschmelzung des nord¬ westdeutschen Steuervereinö mit dem Zollverein war. Es unterliegt keinem Zweisel, daß nicht der Septembervertrag allein, sondern auch die Organisationen im Sinne ihrer Urheber ausgeführt und vollendet worden wären, wenn sich der Lebensfaden des vorigen Monarchen nur um eine kurze Frist verlängert hätte. Beide Aussichten begannen sich augenblicklich zu verfinstern, als sein Nach¬ folger den Thron bestieg. Streng kirchlich und in den starren Grundsätzen des hohen englischen Adels erzogen, brachte Georg V. nicht mehr Geschmack an con- stitutionellen Formen und parlamentarischer Regierung auf das Festland mit, als sein eiserner Vater selbst. Diesen aber empfing die rauhe Schule der Erfahrung, und verband sich mit der tiefen Vortrefflichkeit seiner Natur, um aus dem englischen Hochtory einen gerechten und mäßigen Herrscher herauszubilden, .während der früh erblindete Sohn in eine halb freiwillige, halb aufgedrängte Abgeschiedenheit von der Welt und dem Hofleben zurücktrat, die etwa eingesogene Vorurtheile uicht berich¬ tigen, noch seine nicht glänzenden Fähigkeiten entwickeln konnte. Der unersetzliche Mangel des Gesichts schien ihn nur um so mehr in sich selbst zu verschließen, nur um so entschlossener zu machen, jede eigene Thätigkeit und handelnde Theilnahme an den Geschäften von sich fern zu halten und nöthigenfalls auf die gefälligen Schultern seiner ersten Diener abzuwälzen. So ist denn das hannoversche Volk über die eigentlichen Meinungen und Absichten seines gegen¬ wärtigen Regenten noch heute völlig im Unklaren; und leider ist nur so viel gewiß, daß das Volk ihm weder die Willenskraft, noch die treue Beharrlichkeit seines königlichen Vaters zutraut. Wir Alle glauben ihn dem Einfluß seiner nächsten Umgebungen unbedingt verfallen; uns ist nicht Georg V., sondern seine Umgebung, Inhaber der höchsten Stelle, und darum nennen wir noch immer den Thron¬ wechsel ein trauriges Ereigniß. Ueber die Sehenden König zu sein, ist für einen Blinden schwer! selbst wenn er die angeborne Fähigkeit eines unabhängigen Willens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/280>, abgerufen am 27.04.2024.